tief berührend und authentisch

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nancy0705 Avatar

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Der neue Roman von Mechthild Borrmann „Lebensbande“ verwebt mehrere Zeitebenen und Perspektiven miteinander, um die Folgen von Schuld, Schweigen und familiären Geheimnissen sichtbar zu machen. Im Zentrum stehen drei junge Frauen, deren Leben durch historische Ereignisse – insbesondere durch politisch verursachtes Unrecht im 20. Jahrhundert – und durch die Entscheidungen ihrer Familien nachhaltig geprägt werden. Während die Gegenwartshandlung das langsame Enthüllen eines lange verdrängten Verbrechens beschreibt, folgt die Vergangenheitsebene den Menschen, die schuldig wurden, wegschauten oder überlebten.
Die Verbindung zwischen diesen Schicksalen kristallisiert sich erst spät heraus und bildet den Kern des Romans: Wie wirken Verletzungen über Generationen hinweg fort und welche Verantwortung trägt man für eine Wahrheit, die man nicht kennt, aber deren Folgen man spürt?

Schon nach den ersten Seiten des Buches hatte ich das Gefühl, in eine sehr besondere Stimmung einzutauchen – eine Atmosphäre, die gleichzeitig leise und gespannt ist, als wäre etwas Ungesagtes im Raum, das sich nur sehr vorsichtig zeigt. Genau diese Feinheit in der Erzählweise hat mich sofort abgeholt. Es gibt Bücher, die laut um Aufmerksamkeit ringen, "Lebensbande" gehört für mich jedoch im Gegenteil dazu zu denen, die flüstern und gerade deshalb so eindringlich wirken.

Borrmanns Sprache ist für mich klar, konzentriert und niemals überladen. Ich mag, wie sie mit wenigen, präzisen Sätzen eine Stimmung aufbauen kann, die ich während des Lesens fast körperlich gespürt habe. Alles wirkt bewusst gesetzt, nichts wirkt künstlich oder erzwungen.
Was mich besonders fasziniert hat, sind die Perspektiv- und Zeitebenenwechsel, da sie mir das Gefühl geben, aus verschiedenen Blickwinkeln auf dieselbe Geschichte zu schauen. Diese Switches sind für mich wie kleine Fenster, die sich öffnen: mal in eine andere Zeit, mal in das Innere einer Figur, mal an einen Ort, über den man vorher nur eine Ahnung hatte. Diese Wechsel machen den Roman für mich unglaublich lebendig und authentisch. Ich hatte nie das Gefühl, aus dem Fluss gerissen zu werden, sondern eher, dass das Erzählen dadurch an Tiefe gewinnt. Als würde ich Stück für Stück in ein Geflecht hineinschauen, das erst durch diese unterschiedlichen Einblicke überhaupt als Ganzes erkennbar wird.

Die Handlung entfaltet sich langsam, beinahe tastend, und gerade das mochte ich sehr. Es geht nicht um schnelle Wendungen, sondern um das allmähliche Aufdecken von Zusammenhängen. Ich habe beim Lesen immer gespürt, dass die wahren Konflikte nicht spektakulär sind, sondern versteckt in Momenten des Schweigens, der Angst, der Unwissenheit oder der falsch verstandenen Fürsorge. Genau dieser leise Spannungsbogen hat mich gefesselt. Die Geschichte wirkt nie überdramatisiert. Sie vertraut darauf, dass menschliche Schicksale für sich sprechen. Und das machen sie hier definitiv.

Die Figuren waren für mich das emotionale Herz des Romans. Sie sind nicht heroisch oder idealisiert, sondern wirken verletzlich, widersprüchlich und sehr menschlich. Gerade diese Unvollkommenheit hat sie mir so nah gebracht. Viele handeln aus Überforderung, aus Liebe, aus Angst oder aus Unwissenheit und ich konnte all das gut nachvollziehen.

Das Buch hat mich insgesamt auf eine sehr stille, aber nachhaltige Weise getroffen. Es ist keines dieser Werke, die man zuklappt und sofort abhakt. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass die Gedanken erst nach dem Lesen nachhallen, sich ordnen, wieder aufsteigen. Ich musste mehrfach kurze Pausen machen, nicht wegen Schwere, sondern wegen der Intensität des Menschlichen, das zwischen den Zeilen liegt.

Fazit

„Lebensbande“ von Mechthild Borrmann ist für mich alles in allem ein tief berührender, eindringlicher Roman, der sich nicht durch Lautstärke, sondern durch Genauigkeit und Feingefühl auszeichnet. Die Perspektivwechsel und unterschiedlichen Einblicke machen ihn lebendig und vielschichtig. Die Geschichte wirkt nach – ruhig, aber kraftvoll. Für mich gehört das Buch zu jenen, die einen noch eine ganze Weile begleiten, auch wenn man sie längst aus der Hand gelegt hat.