Lesenswerter Politkrimi über Syrien und Terrorismus

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In welches Genre gehört eigentlich „Lenz“, der neue Roman des Schweizer Schriftstellers Michael Theurillat (57)? Ist es ein Krimi, wie der Ullstein-Verlag den im Oktober veröffentlichten sechsten Band aus der Reihe um den Züricher Kommissar Eschenbach nennt? Oder ist „Lenz“ eher ein Agenten- und Geheimdienst-Roman? Oder vielleicht sogar ein geopolitischer Politkrimi mit tagesaktuellem Bezug? „Lenz“ lässt sich in keine dieser Schubladen packen. Gerade dies macht den Roman so interessant und lesenswert.
Nach dreimonatiger Auszeit in den USA findet Kommissar Eschenbach, diensterfahrener Leiter der Züricher Kriminalpolizei, seine Dienststelle verändert vor. Seine Vertreterin Ivy Köhler hat das Team um Ermittler Claudio Jagmetti und Sekretärin Rosa inzwischen „aufgemischt“ und ein aktueller Todesfall wurde von Köhler kurzerhand zu den Akten gelegt: Der 62-jährige Walter Habicht soll Selbstmord begangen haben. Doch Eschenbach rollt den Fall wieder auf, spürt aber bald, dass ihm Nachrichten vorenthalten werden. Zu allem Überfluss fehlt ihm sein kollegialer Freund: Ewald Lenz, der langjährige Leiter des Polizeiarchivs, ist spurlos verschwunden. Bis dahin ist „Lenz“ ein Kriminalroman. Erst im weiteren Verlauf erfahren wir mehr über den toten Walter Habicht und lernen noch Isabel Cron kennen. Habicht und Cron sind wissenschaftliche Genies und mit Lenz – auch der unscheinbare Archivar hat einen IQ von 150 – über 40 Jahre seit Studienzeiten befreundet. Jetzt wird aus dem Krimi plötzlich ein Agentenroman und schließlich ein Politthriller: Was mit einem Selbstmord in Zürich begann, endet im Umfeld des Syrien-Krieges.
Autor Michael Theurillat versteht es glänzend, mit seinem spannenden Kammerspiel um nur vier Figuren – Eschenbach, Lenz, Habicht und Cron – uns Lesern die geopolitischen Hintergründe zu erklären, die zum Krieg in Syrien geführt haben: Es geht nicht um Syrien und dessen Bevölkerung, nicht um Religion und einen Bürgerkrieg. Es geht in Syrien ausschließlich um die geopolitische Vorherrschaft der Supermächte, um Erdöl und Erdgas. Es ist ein Machtspiel zwischen den USA, Russlands im Zusammenwirken mit nahöstlichen Ländern wie Saudi-Arabien und Katar, Türkei und Iran sowie um die Auswirkung auf den weltweiten, in Teilen von den Mächten für eigene Zwecke gelenkten Terrorismus.
Dies alles funktioniert nicht ohne die Manipulation der Öffentlichkeit über die Medien und sozialen Netzwerke. Nicht ohne Grund bringt Michael Theurillat eingangs das Zitat „Die Wahrheit – sofern sie sehr unwahrscheinlich erscheint – glaubt einem niemand. Sie ist besser als jede Lüge.“ Geheimdienste manipulieren die Medien und versorgen sie so lange zielgerichtet mit Fake News, bis nach endloser Wiederholung die Öffentlichkeit nur noch das als Wahrheit nimmt, was die Geheimdienste uns glauben machen wollen. Wir werden von den Herrschenden manipuliert, auch Eschenbach und noch mehr Lenz werden im Roman unbewusst von anderen gesteuert und für ihre Zwecke missbraucht.
Der neue Roman von Michael Theurillat liest sich flüssig, ist spannend, lässt den Leser stellenweise auch schmunzeln. Stören mag manche, dass beide parallel laufenden Handlungsstränge – einerseits um Eschenbachs Ermittlungsarbeit, andererseits um seinen Freund Ewald Lenz – zeitlich um wenige Tage versetzt sind. Doch ist dies zu vernachlässigen. Vielleicht andere irritierend, für mich eher interessant ist der unerwartete Bruch in der Handlung, der Bruch in der Charakterisierung der Protagonisten. Sie sind plötzlich aus Sicht der Geheimdienste ganz anders zu beurteilen. Da stellt sich tatsächlich die Frage: Wie gut kennt man seine Freunde?