Mitten ins Herz

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fraedherike Avatar

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„Ihre Freundschaft war mehr als die bequeme Verbindung zweier introvertierter, alleinstehender Männer – sie war ein Pakt. Ein Pakt gegen die Unrast und Achtlosigkeit, die den Rest der Welt erfasst hatten. Ein Pakt der Bescheidenheit gegen Konkurrenzgerangel und Getöse.“ (S. 167)

Leonard war schon immer ein ruhiger, in sich gekehrter Mensch, der, nachdem sein Vater bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war, von seiner Mutter aufgezogen wurde. Sie lehrte ihn Güte und Sanftmut, beschützte ihn, ohne bevormundend zu sein, und brachte ihm stets Respekt und Wertschätzung entgegen – und darauf beruhte ihre besondere Mutter-Sohn-Beziehung. So lebten sie gemeinsamen in seinem Elternhaus – Leonard war inzwischen Anfang Dreißig –, bis seine Mutter eines Nachts plötzlich verstarb. In Leonard tut sich eine Leere auf, die er bis dahin nicht kannte, nicht einmal das Lesen konnte ihn mehr auffangen. Doch er stellte sich der Einsamkeit und dem drohenden Verdruss – und fand in Paul, seinem einzigen Freund, und nicht zuletzt auch dessen Familie den Fixpunkt, den die Nadel seines Kompasses zur Ruhe brachte. Schon immer waren sie beste Freunde, einander mit ihrer Neugier und Bescheidenheit Ying und Yang, schätzen die Beständigkeit und Gleichförmigkeit ihrer Freundschaft, diese sanfte Routine, die sich bald etablieren sollte: Scrabble-Abende mit Pauls Familie, die kurzen Nachrichten, die sie einander schickten, das Wissen, dass sie nicht alleine sind in der Schnelllebigkeit des Alltags. Auch Paul lebt mit Mitte Dreißig – anders als seine Schwester Grace, die mitten in den Vorbereitungen für ihre Hochzeit steckt – noch bei seinen Eltern Peter und Helen, nicht etwa, weil es ihm an Elan fehlte, nein, er schätze einfach die familiäre Nähe und die Sicherheit, die sie ihm gab. Während Leonard als Ghostwriter für Kinderenzyklopädien arbeitet, Tag für Tag Geschichten über die Römer verfasst, ist Paul Aushilfsbriefträger. Doch dann: ein Feueralarm, ein Blick – und ihre Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt.

„Jemanden seine volle Aufmerksamkeit zu schenken ist der größte Respekt, den man einem Menschen entgegenbringen kann.“ (S. 290)

Es gibt diese Bücher, die einem genau zur rechten Zeit in die Hände fallen. Bücher, bei denen du bereits auf den ersten Seiten merkst, dass sie einen Ton treffen, den dein Herz gebraucht hat, eine Harmonie, die es auffängt. Und du beginnst, Sätze anzustreichen, die dich innehalten lassen, die dich etwas – dich! – erkennen, dich vor Geborgenheit übergehen lassen. Solch ein Buch ist „Leonard und Paul“, der Debütroman von Rónán Hession, aus dem Englischen übertragen von Andrea O’Brien.

Voller Wärme und Humor erzählt er von der besonderen Freundschaft zweier Männer Mitte Dreißig, die beide eher eine Nebenrolle auf der großen Bühne des Lebens spielen, zurückgezogen, aber nicht einsam leben – denn sie haben einander. Und Pauls Familie. Aus jedem Gespräch, jeder Interaktion sprechen Liebe und Wertschätzung des Gegenübers, Aufrichtigkeit. Sanften Wortes gibt Hession seinen Protagonisten Konturen, Ecken und Kanten, zeigt ihre Ängste und Bedürfnisse auf, ihre leicht verschroben sympathische Naivität und ihr warmes Herz, das in dem Kokon versteckt ist. Sie wachsen am Leben und den sich auftuenden Herausforderungen, erkennen, dass es noch so viel mehr zu bieten hat, wenn man sich nur traut, sich öffnet und auf Menschen zugeht, denn: „Menschen waren nämlich gar nicht so schlecht. Jedenfalls nicht alle. Vielleicht lag darin gerade die Kunst: die richtigen Menschen zu finden, sie zu erkennen und zu wissen, wie man ihnen Wertschätzung entgegenbrachte, sobald man sie gefunden hatte.“ (S. 168)

Hession spielt mit der Sprache, besticht durch eine unvergleichliche Leichtigkeit, eine Lebendigkeit, die ungemein fröhlich macht. Seine feinen, kluge Beobachtungen haben mich ein ums andere Mal innehalten, die Worte wie einen warmen Schauer aufnehmen lassen. Er vertauscht die Leonard und Paul von der Gesellschaft auferlegten Rollen, stellt ihre Freundschaft und jeweilige Entwicklung in den Vordergrund, wo sie sonst übersehen, unterschätzt und abgewertet werden, während die Geschichte von Pauls ältere Schwester Grace, die auf der Bühne des Lebens schon qua Geburt präsenter war, sie lauter, selbstbewusster, eher einen Nebenschauplatz darstellen soll, handlungsunterstützend statt -leitend. Und doch sind es gerade die Nebencharaktere, die Leonard und Paul voranbringen, ermutigen, über sich hinaus zu wachsen, aus Routinen auszubrechen und auf ihr Können zu vertrauen. Und nicht zuletzt: neue Menschen in ihr Leben zu lassen.

Aus dem Schatten zu treten erfordert einiges an Überwindung: ein Gespräch anzufangen, eine Entscheidung zu treffen, die Initiative zu ergreifen - täglich erlebe ich es selbst, diese Angst vor Zurückweisung, davor, den Faden zu verlieren, stehen zu bleiben, während die Welt sich weiterdreht, viel zu schnell. Nicht einmal drei, vier Seiten dauerte es, dass ich Leonard und Paul bereits in mein Herz schloss, diese beiden herrlich besonderen, manches Mal naiven, aber herzensguten Menschen, denen ich mich so nah fühlte. Leonard sagt an einer Stelle, er spiele lieber eine Nebenrolle in der Geschichte der anderen, als in deren Mittelpunkt zu stehen, (...) ungenannt und unbesungen (vgl. S. 17); ein Satz, in dem ich mich wiederfand. Doch vielmehr ist das Buch eigentlich eine Aufforderung, hinter die Fassade zu gucken, Güte und Aufmerksamkeit zu zeigen und die Menschen in seinem Leben, die gemeinsame Zeit wertzuschätzen, so lange es geht. Und: Habe keine Angst vor dem Leben, so groß und laut und undurchdringbar es auch scheint. Stelle dich deinen Gefühlen und vertraue auf deine innere Stärke – und dann kannst du alles schaffen. Ein Herzensbuch.