Roman über die Abgründe menschlicher Psyche

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REZENSION – Die psychologischen Hintergründe ihres Handelns und die Untiefen im Leben seiner Charaktere standen beim deutschen Bestseller-Autor Friedrich Ani (62), der sich selbst als Kriminalschriftsteller bezeichnet, schon immer im Vordergrund seiner Werke. Doch Krimis im herkömmlichen Sinn sind sie alle doch eher nicht. So ist es nur folgerichtig, dass der Suhrkamp-Verlag auch Anis neuestes, im Mai veröffentlichtes Buch „Letzte Ehre“ nicht als Krimi, sondern als Roman ausweist. Es ist ein unwahrscheinlich düsterer, in Teilen vielleicht sogar schockierender Roman. Düster nicht deshalb, weil der Autor die Geschehnisse in brutalen Einzelheiten beschreiben würde, obwohl ihm hier jede Möglichkeit gegeben wäre. Schließlich geht es um Abgründe männlicher Machtfantasien und Gewalt gegen Frauen sowie um Racheakte dadurch physisch und psychisch zerstörter Opfer. Doch das Brutale bleibt bei Ani unausgesprochen, wird nur verklausuliert angedeutet. In scheinbar harmlosen Gesprächen deutet sich das Grauen wie die Spitze eines Eisberges nur an. Es ist also weniger das Geschriebene als vielmehr unser Wissen um solche Verbrechen, unser eigenes Vorstellungsvermögen, unser Weiterdenken beim Lesen, was diesen Roman so faszinierend und fesselnd wirken lässt.
Alles beginnt mit einer klassischen Zeugenvernehmung im Münchner Kommissariat 101 durch Oberkommissarin Fariza Nasri, die bereits in Anis Roman „All die unbewohnten Zimmer (2019) erstmals erschien, im neuen Roman aber als Erzählerin auftritt: Die 17-jährige Finja Madsen bleibt nach einer Party verschwunden. Nasri vernimmt Personen aus dem Umfeld der Vermissten, darunter auch den Freund der Mutter, Stephan Barig. In dessen Haus hatte die Party stattgefunden, während er selbst nachweislich das Wochenende mit zwei Freunden im Wochenendhaus auf dem Land verbracht hatte. Barig, ein unangenehmer Macho, der sich als erfolgreicher „Frauenaufreißer“ sieht, gibt gewissenhaft Auskunft, hat er doch nichts zu verbergen. Oder doch? Nasri ist sich bald sicher, dass er etwas verbirgt.
Eigentlich wollte Friedrich Ani nach eigener Aussage „einen Roman über das Handwerk der Vernehmung im weiteren Sinne schreiben“. So ist zu verstehen, dass es in „Letzte Ehre“ keine in Krimis übliche Action gibt, sondern der Roman sich weitestgehend im Vernehmungszimmer 214 des Münchner Kommissariats 101 abspielt und das Geschehene erst aus den Gesprächen Nasris mit verschiedenen Zeugen erkennbar wird. Wir erfahren von BDSM-Sexspielen, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch und sogar Leichenschändung, ohne dass auf irgendeiner der 270 Seiten einer dieser Ausdrücke fällt. Zurück bleibt nach manchem Verhör ein Scherbenhaufen – wie bei Ines Kaltwasser: „Je länger sie sprach …, desto mehr zersplitterte ihre Stimme; am Ende blieben die Scherben eines lebenslangen Schweigens in Zimmer 214 zurück.“
Spuren ihres aufreibenden Lebens als Verhörspezialistin, so manche persönliche Kränkung und Verletzung der schon einmal strafversetzten Oberkommissarin, haben nicht zuletzt bei der 58-jährigen Fariza Nasri, übrigens wie Ani selbst Kind eines syrischen Vaters, tiefe psychische Spuren hinterlassen: „Wir sind alle verbeult, jeder auf seine Weise, und wir kaschieren unsere Beulen, jeder auf seine Weise. …. Geschult in Unerschrockenheit, trugen wir zum Selbstschutz eiserne Masken.“ Doch in Anis neuem Roman kann selbst diese „eiserne Maske“ sie nicht mehr schützen: Nasri, die mit ihrer Arbeit allen Verbrechensopfern eine „Letzte Ehre“ erweisen will, wird psychisch selbst zum Opfer.
Friedrich Ani hat in seinem literarisch hochwertigen, stilistisch wieder faszinierenden und deshalb empfehlenswerten Roman mit Fariza Nasri eine interessante Figur geschaffen, die als neue Serienfigur die Reihe seiner bisherigen Ermittler Polonius Fischer, Tabor Süden und Jakob Franck ausgezeichnet ergänzt. Der eigenartige Schluss des Romans „Letzte Ehre“ lässt auf Fortsetzungen hoffen, zumal Ani im Zeitungsinterview schon verraten hat: „Jetzt gibt es mehr Details über ihr Leben, und natürlich ist sie .… noch lange nicht auserzählt. “