Narben, die verblassen aber nie ganz verschwinden..

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sedef Avatar

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"Vielleicht ist jeder einzelne das, was von jeder Seele bleibt, die je gelebt hat; vielleicht ist Zeit kein Kontinuum, sondern die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entfalten sich immer und ewig."

Nachdem ich die Leseprobe gelesen hatte, wollte ich unbedingt mehr von dieser Geschichte, wird doch schnell klar, das wir hier was besonderes in den Händen halten. Wo fange ich an zu erklären? Gar nicht so leicht, denn das Buch wirkt auf den ersten Blick sehr unstrukturiert, aber alles hat seinen Sinn.

Die Handlung erstreckt sich insgesamt über mehrere Jahrzehnte, wobei die Zeitebenen wild durcheinander gewürfelt werden und der Leser auch zwischen den Perspektiven wechselt. Aber zu keinem Zeitpunkt bin ich damit überfordert gewesen, das hat die Autorin wirklich geschickt gemacht.

Wir begleiten die Familie Wilf, bestehend aus den Eltern Ben und Mimi, sowie deren Kindern Sarah und Theo. Außerdem die Shenkmans mit ihrem Sohn Waldo. Die Familien sind benachbart und eigentlich durch ein anderes Ereignis miteinander verbundenen, bleiben sich aber seltsam fremd.

Die Geschichte beginnt im Jahr 1985 als die Teenager Sarah und Theo einen Autounfall mit verheerenden Folgen verursachen.
Dann springen wir ins Jahr 2010, die Kinder sind mittlerweile Erwachsen, Mimi an Demenz erkrankt und wohnt betreut, Ben will das Haus verkaufen. An seinem letzten Abend führt er ein berührendes Gespräch mit Waldo Shenkman, dem 11jährigen von Gegenüber.

Von da an erhalten wir nur noch Schnipsel aus den Leben der verschiedenen Personen, es geht um die Geburt Waldos am Silvesterabend 1999, die Ehe seiner Eltern, die Schuldgefühle des Vaters weil er Waldo, seinen besonderen Sohn, nicht annehmen kann wie er ist, Waldos Gefühlswelt, seine Ängste, aber auch seine spätere Entwicklung.
Aber wir erfahren auch wie besagte Nacht das Leben von Theo und Sarah beeinflusst hat.

Es gibt also nicht den einen Handlungsstrang, sondern nur Momentaufnahmen aus dem (Innen-)leben der Charaktere.
Insbesondere steht hier die fehlende Kommunikation zwischen Einzelnen im Vordergrund. Warum reden sie nicht miteinander, was wäre anders gewesen, wenn sie es getan hätten?
Die Autorin hat einen wirklich fesselnden und einfühlsamen Schreibstil, der klar, aber oft auch poetisch oder gar philosophisch ist, das hat mir richtig gut gefallen. Die Charaktere sind alle authentisch dargestellt und obwohl man über die einzelnen Personen nicht viel erfährt, wirken sie dennoch sehr komplex.

Ein lesenswerter Romen, der von Narben handelt, die verblassen, aber nie ganz verschwinden.

"[...]da war es, als hätte alles keinen Anfang und kein Ende. Als wären wir Lichtjahre entfernt und doch hier, alles gleichzeitig"