Atemberaubend

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fraedherike Avatar

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"Ich frage mich, wie es wohl klingt, wenn ein Herz bricht. Ich glaube, es wäre leise, kaum wahrnehmbar, und gänzlich unspektakulär - wie eine erschöpfte Schwalbe, die sanft zu Boden fällt." (S. 194)

Als Ellis Michael zum ersten Mal sah, waren die Straßen Oxfords von zartem Schnee bedeckt. Er stieg mit zwei großen Koffern aus dem Wagen, der ihn in sein neues Zuhause bringen sollte. Vom ersten Augenblick ihres Zusammentreffens an war ein Zauber zwischen ihnen, den sie nicht fassen konnten. Ihre gemeinsame Liebe zur Kunst, eine Sehnsucht, die ihren Anfang in Ockergelb, Umbra und Azur fand: vor dem Bild der fünfzehn Sonnenblumen, die van Gogh in Südfrankreich malte. Dem Bild, das Ellis‘ Mutter Dora noch vor seiner Geburt bei einer Tombola gewann, entschlossen und sehr zum Missfallen ihres Mannes im Haus aufhing – und Michaels Blicke auf sich zog. Flüchtige Berührungen hinter geschlossenen Türen, warme Blicke, Nasen und Lippen berühren einander. Doch sie haben Angst, entdeckt zu werden: von Ellis‘ Vater und seiner traurigen Wut, von ihren Mitschülern, Nachbarn. Als Michael, inzwischen freier Journalist bei der Oxford Times, die Möglichkeit erhält, nach Frankreich zu fahren, begleitet Ellis ihn. Warmes Licht, weite Landschaften, Abstand. Ein Meer fast, das sie von Zuhause trennt. Es ist vielmehr eine Flucht als ein Urlaub, eine Chance herauszufinden, welche Wege das Leben für sie bereithalten kann. Wer sie sein könnten, gemeinsam, wenn nur... Angst. Nein, es geht nicht. Die Vergangenheit wirft ihre Schatten voraus. Und dann tritt Annie in ihr Leben und macht sie komplett.

"Die erste Liebe hat so etwas an sich. Sie ist unantastbar für die, die nicht dabei waren. Aber sie ist der Maßstab für alles, was kommt." (S. 179)

Strahlendes Chromgelb, das an den Spitzen der Blüten zu einem warmen Ocker verläuft; hellblauer Hintergrund, der von Hoffnung spricht, von Wohlbefinden, davon, dass es alles gut wird. In ihrem dritten Roman "Lichte Tage", der im englischen Original den Titel "Tin Man" trägt, erzählt Sarah Winman voller Wärme und zartem Schmerz eine Geschichte von alles überdauernder Freundschaft, heimlicher Liebe und der Suche nach sexueller Identität, von Erinnerungen, die zwischen Tagebuchseiten, in Bildern, einem abgetragenen Shirt konserviert werden.

Seit Annie vor einigen Jahren gestorben ist, repariert Ellis in der Nachtschicht Autos, bessert Lackschäden und Dellen aus; keine schlaflosen Nächte mehr, und dennoch sieht er überall ihren Geist. Doch seine Erinnerungen an sie werden blasser, ihre Stimme, die, wenn sie wieder eine Frank Sinatra-Imitation zum Besten gab, Tote wecken könnte, ein weißes Rauschen. Er ist einsam ohne sie. Ohne Michael. Seine erste große Liebe. Wie in einem Fiebertraum lässt Winman Ellis in Erinnerungen taumeln, zeigt auf, woher seine Vulnerabilität, seine Traurigkeit rühren. Kurze Szenen in Sepia, Momente des Glücks und der Leere, Michaels plötzliches Verschwinden, Liebe und Freundschaft, die die graue Gegenwart in helles Licht tauchen, die auch mich für einen Moment alles um mich vergessen ließen. Und dann findet Ellis auf dem Dachboden seines Vaters, diesem Mann, der nach dem Tod seiner Mutter Dora über sein Leben bestimmte, ihm seiner Freiheit nahm, Künstler zu werden, wie er es immer wollte, der nun vom Alter gezeichnet von der Fürsorge Carols, seiner Lebensgefährtin, abhängig ist: eine Kiste. Michael steht darauf. Carol hatte sie für ihn aufbewahrt, für den Moment, wenn er bereit ist. Er findet ein Postkarten, Bilder. Ein Notizbuch.

Klick, Pausentaste. Das Band spult sieben Jahre vor, es ist 1989. Verloren geglaubte Puzzleteile schließen eine Lücke. Aus der Sicht von Michael beschreibt Winman, in denen er aus Ellis' und Annies Leben verschwand, Jahre, in denen er nach sich selbst suchte, dem Menschen, der er sein mag. Einfühlsam und nuanciert zeigt sie auf, welchen Einfluss die Verluste, die er aufgrund der AIDS-Epidemie der 1980er Jahre machen musste, die Menschen, denen er begegnete, auf seine Persönlichkeitsentwicklung hatten. Wie er immer wieder an Ellis denken muss. An das, was sie hätten sein können. An Allie, an Dora und an Marbel. Und daran, wie seine Mutter ihn einst verließ, alleine ließ. Aber nun ist das Bild komplett.

Immer langsamer schweifte mein Blick über die Zeilen, wollte ich weder Michael noch Ellis hinter mir lassen, noch länger im Licht der goldenen Tage stehen und von Liebe und Zauber erfüllt werden. Doch jeder Tag neigt sich dem Ende, ein Lächeln auf den Lippen, das von Glückseligkeit spricht: ob der warmen Bilder, die Sarah Winman mit ihrer Sprache zeichnet, der Protagonisten, die zu Freunden geworden sind. Zu Erinnerungen an die guten, an die lichten Tage. Eine große Empfehlung!