Ein Roman wie ein Kunstwerk

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missmarie Avatar

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,, ,Überleg doch mal", erwiderter ich. ,Wir müssen alle aus der Dunkelheit ausbrechen, um zu singen.´"

Aus der Dunkelheit ausbrechen, um zu singen - im Umfeld von Ellis Judd kann dieser Satz viele Bedeutungen haben. Dazu stehen, dass sich auch Jungen und Männer für Kunst und Literatur bekennen dürfen. Ein leibgewonnenes Bild gegenüber dem gewalttätigen Ehemann verteidigen. Zu seiner Homosexualität stehen. Ellis, ein Mann mittleren Alters, ist nach dem Tod seiner Frau und seines besten Freundes allein und vor allem einsam. Eine tiefe Sehnsucht spricht aus den Seiten, auf denen sein Tagesablauf - Nachschicht in der Autofabrik - geschildert wird, Fast greifbar wird all das, wonach er sich sehnt: Gesellschaft, Gespräche, Kunst, Frankreich. Da entdeckt er durch Zufall das Tagebuch seines Jugendfreund Michaels. Der war nicht nur sein bester Freund, sondern auch seine erste geheime Liebe - zumindest für ein paar Urlaubstage in der Provance. Als Michael später überraschend für mehrere Jahre aus Ellis Leben verschwand, blieb er seinem Jugendfreund eine Erklärung schuldig. Die findet Ellis nun in Michaels Tagebuch der Jahre 1989/90.

Sarah Winman hat mit "Lichte Tage" eines der seltenen Bücher geschrieben, bei denen man sich wünscht, sie mögen nie enden. Und so sind die etwa 200 Seiten auch viel zu kurz, um sich nach ihnen schon vom melancholischen Ellis zu verabschieden. Voller Poesie sind die Beschreibungen der Orte und des alten, einsamen Mannes. Schon nach wenigen Seiten taucht man in den atmosphärisch dichten Roman. Wird mitgerissen in ein Oxford fernab der universitären Strukturen. Findet sich in der Welt der Arbeiterklasse wieder, in der nichts so viel zu zählen scheint, wie das Männlichkeitsideal. Undenkbar, was man dort mit einem schwulen Sohn anfangen soll - mit einem Jungen mit Handtasche.

Auch wenn Winman keine neue Geschichte erzählt - verbotene Liebschaften zwischen zwei Männern - sind Erzählstimme und Figurenzeichnung so gelungen, dass man als Leser das Gefühl hat, so etwas noch nicht gelesen zu haben. Besonders schön ist der Kontrast zwischen Ellis Alltagswelt - kaum ausgeschmückt durch Adjektive - und die gerade schon bombastischen Ausschmückungen der Zeit in Frankreich. Genauso schön sind Situationen, die aus Michaels und aus Ellis Sicht - teilweise unter Rückgriff auf ähnliche Metaphern - beschrieben werden. Da zeigt sich Winmans schriftstellerisches Können und die grandiose Übersetzungsleistung von Elina Baumbach. Bildgewaltig sind auch die Anspielungen auf Kunst und Musik. Allen voran - wie das Cover schon vermuten lässt - Van Gogh. Genauso kann man aber auch eine Playlist zum Roman anhand der vielen musikalischen Anleihen erstellen.

Winman ist definitiv ein Name, den ich mir merken werde und "Lichte Tage" zählt schon jetzt zu meinen Favoriten dieses Bücherjahres.