Pure Wirklichkeit

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Wenn das Leben dunkel erscheint, braucht es etwas, das Licht und Wärme spendet. Für Dora Judd ist es das Bild mit den Sonnenblumen, ein Nachdruck von van Goghs berühmtem Gemälde, das sie bei einer Tombola gewinnt und das fortan in ihrer Wohnung hängt. Nach ihrem frühen Tod wird Sohn Ellis besonders durch zwei Menschen aufgefangen: die herzensgute Mabel und deren Enkel Michael, mit dem sich Ellis gleich bei dessen Ankunft in Oxford anfreundet, eine Freundschaft, die innig ist, für die ebendieser Begriff schon bald nicht mehr ausreicht. Eine gemeinsame Reise Jahre später in den Süden Frankreichs stellt sie vor unausgesprochene Entscheidungen, doch der Weg führt sie zurück nach England. Dort lernt Ellis Annie kennen – und lieben! Die Drei werden zu einem untrennbaren Gespann, und doch flüchtet Michael nach dem Tod seiner Großmutter nach London, versucht, sein Leben auf neue Füße zu stellen. Die Erinnerungen sind stark, die Bande, die Michael und Ellis geknüpft haben, die Annie zusammenhält. Ein Wiedersehen bringt Freude wie auch Leid mit sich...

„Ich könnte niemals jemanden in unsere Drei einfügen. Ich hatte keinen Platz, um jemand anderen zu lieben“ (S. 182)

Innerhalb weniger Seiten hat sich „Lichte Tage“ mit seiner Zartheit und Wahrhaftigkeit in mein Herz gegraben, konnte die gemeinsame Geschichte von Ellis und Michael mit all ihren Facetten, ihren Aufs und Abs, ihrer unhinterfragbaren Nähe zueinander überzeugen. Es geschieht selten, dass eine Erzählung mit dramatischen Wendungen einerseits und gleichzeitig großer Leichtigkeit sowie dem Zelebrieren von Freundschaft und Liebe in seiner reinsten Form andererseits daherkommt. Winman gelingt es vortrefflich berührend, so sensibel, diesen Zauber in eine schillernde, literarische Form zu gießen.

Das erste Aufeinandertreffen von Ellis und Michael ist schicksalshaft, macht es doch beiden sofort klar, dass sie zueinander gehören, dass sie in unbestimmter Form füreinander bestimmt sind: Michael, von seinen Eltern im Stich gelassen und zu seiner Großmutter geschickt, und Ellis, der nach dem Tod seiner Mutter und der mentalen Abwesenheit seiner Vaters kurzzeitig den Halt zu verlieren droht. So fragil und empfindsam wird das vorsichtige Annähern der beiden Jungen geschildert, das Knüpfen einer Beziehung, dessen Purity – ein Begriff, dessen Bedeutungsvielfalt nicht ohne weiteres ins Deutsche übertragen werden kann – unverstellt und authentisch aus den Buchseiten strahlt. Vieles bleibt ungesagt zwischen Ellis und Michael, implizit, und dennoch wissen sie haargenau, was sie am jeweils anderen haben, welche Bedeutung sie im Leben des anderen einnehmen. Dass sich diese Innigkeit auch durch Annie nicht ändert, die als Ellis‘ Partnerin gleichzeitig auch zur besten Freundin von Michael wird, ist bemerkenswert – und wirkt dennoch nie aufgesetzt, unwahrscheinlich oder fragwürdig. Im zweiten Teil des Romans wechselt die Perspektive dann von Ellis auf Michael, auf die Zeit seiner Abwesenheit aus dem Leben seines besten Freundes, mit all den Erfahrungen, die er als junger, schwuler Mann im London der 1980er-Jahre sammelt. Die Drastik der Wirklichkeit prasselt ein weiteres Mal auf Michael ein und lässt ihn dennoch nicht klein werden.

Sarah Winmans „Lichte Tage“ ist auf beruhigende Weise Trost spendend. Es gelingt ihr, mit wenigen, aber stets leuchtend-klaren Worten die Lebensrealität von zwei jungen Männern zu zeichnen, die durch ihre Schicksalsschläge nur stärker werden, die an- und miteinander wachsen. Dramatische Erlebnisse erfahren ihre Verarbeitung, und doch dominieren stets Helligkeit und Schönheit, verwischen niemals die herben Rückschläge im Leben, sondern zeigen Perspektiven und Hoffnung auf. Matt Haig schreibt: „Ein verblüffend schönes Buch!“, und das ist es wirklich, verblüffend in all seiner Schönheit! Eine große Leseempfehlung für den nahenden Frühling!