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frischelandluft Avatar

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Was haben wir hier? Die zunehmende Demenz eines ehemaligen Regisseurs von ihm selbst wahrgenommen, beklemmende Entwicklung der Krankheit; die Nazi-Vergangenheit, die nach Kriegsende verschwiegen bzw verheimlicht wurde und jetzt durch Bemerkungen endlich aufgedeckt wird? Eine spannende Kombination.

Schon auf den ersten Seiten ist man in medias res und in der beängstigenden Psyche eines desorientierten Demenzkranken und wechselt mit ihm zwischen dem, was er kann und weiß und dem, was er vergessen hat und was er nicht mehr kann. Mir bleibt beim Lesen abwechselnd das Herz stehen, es ist beklemmend und dann wieder urkomisch, wenn er einen Satz sagt wie "Mein Kopf arbeitet nicht wie früher, aber so eine Sendung kann ich immer noch meistern."
Im Lauf der Sendung verliert der Erzähler immer mehr den Bezug zur Gegenwart und man erkennt, dass es eine Geschichte im Dritten Reich gab, die später nicht veröffentlicht, sondern verschwiegen wurde, war er zB Schuld an der Deportation des Vaters des Redakteurs Rosenzweig? Bezeichnend, dass Wilzek den Namen Rosenzweig immer wieder leicht verändert wahrnimmt, es bleibt die jüdische Konnotation. Welche Rolle spielte Wilzek im Dritten Reich? Die Frau meines Professors, deren Vater, den sie immer als liebevollen Familienmenschen kannte, wurde in seinen letzten Lebensjahren dement und plötzlich erzählte er von seiner Vergangenheit im Dritten Reich , bzw diese Vergangenheit wurde für ihn wieder zur Gegenwart - zum Entsetzen der ganzen Familie. Es stellte sich heraus, dass er bei der SS gewesen und an fürchterlichen Taten beteiligt gewesen war. Furchtbar. Er ist gestorben, bevor es zu rechtlichen Konsequenzen kommen konnte, wie geht man als Familie damit um? Wie viele Täter kannten wir als andere Menschen, ohne zu ahnen, wer sie wirklich waren?

Beide Themen des Buches stehen mir nahe. Ich habe an der Universität in den USA über den Holocaust gearbeitet und immer versucht, so viel wie möglich über die Vergangenheit meiner Familie zu erfahren. Das Thema Demenz berührt mich schon lange, mich erinnert dieser Roman an den Film "Honig im Kopf" von Til Schweiger und das Buch "Still Alice" von Lisa Genova. Mich erschrecken in allen drei Werken vor allem die wachsende Einsamkeit und der Verlust der Selbstständigkeit und der eigenen Geschichte, der einem bewusst wird und gegen den man hilflos ist. Aus Sicht der Familie / Freunde finde ich den Verlust der gemeinsamen Geschichte und Erinnerungen und damit eines wesentlichen Teils der Beziehung unendlich traurig. Wenn dann die gemeinsamen Erinnerungen schwinden und sich herausstellt, dass die geliebte Person eine ganz andere, schreckliche Seite hatte, wie geht man damit um?

Ich bin sehr gespannt, wie dieser Roman weiter geht, besonders da es ja der Erzähler selber ist, der dement ist.