Wo ist der "Fall Molander"?

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martinabade Avatar

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Nach gut fünf Jahren kommt Mitte Oktober ein neuer Titel von Daniel Kehlmann in den Handel. „Lichtspiel“ erscheint im Verlag Rowohlt. Einem großen Publikum wurde der Autor mit dem Roman „Die Vermessung der Welt“ im Jahr 2005 bekannt; in 2017 erschien „Tyll“, ein Buch, das von Kritik und Leserschaft gleichermaßen gemocht wurde.

In „Lichtspiel“ erzählt Kehlmann Teile der Lebens- und Schaffensgeschichte des Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst. Der berühmte „rote Pabst“ ist kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges vor den Nazis nach Kalifornien geflohen, vorher hat er etliche Jahre in Frankreich gearbeitet. Pabst hat zu Stummfilmzeiten mit den Größten gedreht, Greta Garbo, Asta Nielsen, Werner Krauß, Louise Brooks, Fritz Kortner, Carl Goetz. Die Garbo hat er entdeckt, für die Brooks hätte er seine Frau verlassen. Er dreht in der Liga von Lang, Murnau und Lubitsch. Nun sucht er in der kalifornischen Hitze Geld für seine neue Filmidee und findet „the American Way of Life“ einfach grauselig. Komplette Ahnungslosigkeit wird in der Regel mit lauter Begrüßung kaschiert: „Oh, the famous Pabst, you are the one who did „Metropolis“! Nein, das war Fritz Lang. Schließlich wird Pabst in ein schlechtes Drehbuch gedrängt. „A Modern Hero“ wird ein Flop. Neue Projekte sind somit in weiter Ferne. Ein Exilantenschicksal wie Tausende andere. Wie zum Beispiel Alfred Döblin und Lion Feuchtwanger, die großen Dichter, die zur gleichen Zeit in den Büros der großen Produktionsstudios sitzen und dazu angestellt sind, geistlose Dialoge zu schreiben.

Doch Pabst ist ein tragischer Held. Ein manischer Künstler, ein Genie, das nur zum Leben erwacht, wenn es kreativ tätig sein kann. Und das unbeugsam, nur zu seinen Konditionen. Wider alle Vernunft geht die Familie Pabst zurück nach Europa. Nach Frankreich, vielleicht in die Schweiz, Filme drehen, Geld von verschiedenen Konten holen, danach eventuell wieder in die USA, er ist ja mit allen Papieren ausgestattet. Und dann wird dieser Spuk in Deutschland auch vorbei sein. Allein an den Franzosen wird Deutschland sich im Kriegsfall die Zähne ausbeißen.

Die Familie fährt nach Schloss Dreiturm, (das ganz ohne Türme auskommt), in der Ostmark, im Dorf Tillmitsch. Das Schloss gehört dem Regisseur, ein Erwerb aus besseren Zeiten. Da hat allerdings inzwischen die Hausmeisterfamilie das Regiment übernommen, die Naziuniform wird mit Stolz getragen. Als G.W. und seine Frau Trude endlich entscheiden, das deutsche Einflussgebiet zu verlassen, beginnt Hitler den Krieg. Die Grenzen zu, keine Züge, die Papiere nutzlos. Als das Regime nach dem berühmten G.W. Pabst greift, kann dieser sich nicht entziehen. Unter immer schwieriger werdenden Bedingungen dreht Pabst nun auf Geheiß der Machthaber Film um Film.

Nur, wenn er ein Projekt hat, erwacht er zum Leben, ansonsten ist er geistig abwesend, sitzt in der Bibliothek, macht lange Spaziergänge. Man schickt ihn zur Unterstützung als Leni Riefenstahl versucht, ihr Projekt „Tiefland“ zum Ende zu bringen. Pabst soll „sich um die Gesichter kümmern“. Die Regisseurin ist auch ihre eigene Hauptdarstellerin. Bei einem Flamenco hat G.W. den Eindruck, sie wirbele so steif mit den Armen umher als wolle sie eine Fliege verscheuchen.

Für das letzte große Projekt während des Krieges, muss die ganze Truppe aus Sicherheitsgründen nach Prag gehen. Gedreht wird „Der Fall Molander“, ein Drehbuch, das Pabst aus dem Unterhaltungsroman eines Nazi-Günstlings herausgeschnitzt hat. Das Regie-Genie arbeitet auch hier wie besessen, doch wenn die Scheinwerfer ausgehen, fällt er in sich zusammen „wie ein Kostüm, dass keiner trägt.“

Bis dahin ist „Lichtspiel“ ein spannendes Buch, lehrreich und unterhaltsam, detailreich und akribisch recherchiert. Vielleicht sagt der ein oder andere: „Hmmm, da hätte ich mir einen Tick mehr erwartet.“ Und genau diese Leser werden im letzten Viertel des Buches belohnt. In einem kathartischen Höhepunkt verschmelzen Literatur und Film, Realität und Erdachtes.
Die kleine und große Wortgewalt des Autors und vielleicht seine Nähe zum „besessenen Genie“, vermögen es, in einer einzigen Szene, Tempo, Rhythmus und inneres Erleben, das Finale des Kampfes zwischen Kunst und Macht, meisterlich darzustellen.