Ein Herzensbuch

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
fraedherike Avatar

Von

„In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst bleibt nur durch andere gegenwärtig.“ (S. 76)

Feine Staubkörner tanzen im Morgenlicht, das Lev an der Nase kitzelt. Er hört das Gepolter in der Küche, ein zaghaftes Klopfen. Leise öffnet sich seine Tür, und Kato schaut in erwartungsvoll an. Ihre Haare konnten sich nie entscheiden, ob sie glatt oder lockig sein wollten. Seit er nicht mehr zur Schule gehen konnte, brachte Kato ihm jeden Tag die Hausaufgaben vorbei, eingehüllt in den Duft von Milch. Er weigerte sich, als sie zum ersten Mal kam, dieses sonderbare Mädchen, ob er nicht schon genug gestraft sei mit - er rennt, immer schneller, aber er ist zu spät, für immer zu spät. Einatmen, ausatmen. Zwischen ihnen entsteht eine Verbindung, die über Freundschaft hinaus geht; sie geben einander Halt in einer Welt, die im Umbruch begriffen ist: Die Menschen sind gut darin geworden, wegzusehen, wegzuhören. Sich wegzudenken; aus ihrem Dorf, aus diesem Land. Der Traum vom Westen. Kato war gegangen, als Tom kam, Jahre später, während Lev noch immer in Rumänien lebt, den Pfaden ihrer gemeinsamen Kindheit folgt, den Klang ihrer Stimme im Ohr, die immer dunkler war, als er es erwartete. Tom war ihre Möglichkeit zur Flucht gewesen, doch für Lev war er ein Spiegel für das Leben, das sie führten. Einer möglichen Zukunft. Geblieben sind ihm nur ihre Postkarten, flüchtige Skizzen der Städte, in denen sie sich befindet, denn man ist, einmal gegangen, immer ein Gehender. Und dann, diese Karte aus Zürich: „Wann kommst du?“

„Seine Herkunft war in seinem Akzent, war ihm eingenäht in Kleidung und Schuhe.“ (S. 22f)

Sehnsuchtsvoll sind die Blicke, die Lev ihr zuwirft, als er Kato nach all den Jahren wieder sieht. Sie erzählen eine Geschichte, erzählen von den Momenten, die sie teilten, von den Zutaten, die sie sich für ihre jeweiligen Leben mitgaben, damals, in der Maramuresch. Zwei Menschen, Schatten auf dem Asphalt, die gegangen und geblieben sind, die losließen, um zu den Menschen zu werden, die sie nach alle den Jahren sind.

Das Verschwinden sei schlimm genug. Aber das Vergessen sei schlimmer. (S. 156)
.
Zärtlich und unendlich behutsam zeichnet Iris Wolff in „Lichtungen“ die Bande einer Freundschaft, die von den Jahreszeiten geformt wurde, aber noch die kältesten Winter überdauert hat. Lev und Kato kennen sich bereits seit ihrer Kindheit, gingen gemeinsam zur Schule. Sie ist ein Samstagskind, wie ihre Mutter sagte, neugierig und klug, doch in den Augen der anderen eine Außenseiterin. Kato hatte einen eigenen Zugang zur Welt, erfuhr sie mit ihren Sinnen, ihrer Fantasie, um dem Jetzt zu entfliehen, denn ihr Vater war Alkoholiker, ihre Mutter nicht mehr da; wann immer möglich, war sie bei Lev zu Hause, um dem Zorn des Vaters zu entfliehen. Lev hingegen ist still und pflichtbewusst, bedacht mit seinen Worten und Handlungen; ein Beobachter. Einer, der bleibt, der festhält an Erinnerungen. An Gefühlen. An drei Worten, die ein Anfang, ein Aufbruch sein können.
.
Zunächst nur vage Pinselstriche, Schattenwurf auf weißem Papier, gibt Iris Wolff Lev und Kato und ihrer Umgebung immer mehr Tiefe, Konturen, Merkmale, die sie besonders machen - den suchenden, unsicheren Blick; lockig-glattes Haar; raue Gebirgszüge, karges Land. Beginnend in der Gegenwart, fernab ihrer beider Heimat, bewegt sich die Handlung der Vergangenheit entgegen, in die Maramuresch im Norden Rumäniens. Szenen eines Lebens ziehen vorbei: Grenzen verändern ihre Linienführung, aus einem Land wird ein anderes, aus einer Staatsform eine andere. Angst weicht Erleichterung, Krankheit wird zu Gesundheit, Menschen kommen, bleiben - und sie gehen, flüchten, träumen von einem besseren Leben, von Freiheit, von Geborgenheit. Welchen Sinn und Zweck haben Grenzen, haben Staatsangehörigkeit in diesen Zeiten?
.
„In dieser Dunkelheit ließ sich die Distanz besser überwinden zwischen Zugehörigkeit und Fremdsein, Erinnern und Vergessen.“ (S. 23)
.
Es ist magisch, wie geschickt Iris Wolff die einzelnen Versatzstücke aufeinander aufbaut, mit dem Innen und Außen, der Dynamik zwischen Lev und Kato, ihrer Familie und ihrer Umwelt spielt, und vermeintliche Lücken in der Erzählung, sind sie für die handelnden Personen bereits bekannt, mit jedem Schritt der Vergangenheit entgegen schließt. Die Geschichte entwickelt so eine ganz besondere Dramaturgie, die ich bis dahin noch nicht in der Form erlebt habe: unaufgeregt und subtil, aber doch so kraftvoll, unterschwellig drängend, vorantreibend. Einfach richtig gut. Jeder Atemzug, jedes Wort ist poetisch, wärmend, legt sich wohltuend um Herz und Seele. Und dort behalte ich Lev und Kato, ihre Geschichte, diese zarte Flamme tiefer Freundschaft.