Ein Roman mit Tiefgang, der aber zur richtigen Zeit gelesen werden muss

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mrscatastrophy Avatar

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Lev und Kato kennen einander seit früher Kindheit, sie leben im gleichen Dorf und blicken auf eine enge Freundschaft zurück. Doch als sie die Möglichkeit bekommt, Rumänien hinter sich zu lassen und in den Westen zu reisen, nimmt Kato diese wahr. Lev bleibt zurück, bis er einige Jahre später eine Karte von ihr erhält, verbunden mit der Bitte, sie in Zürich zu besuchen. Das Aufeinandertreffen der Beiden in Zürich bildet den Beginn von "Lichtungen", dem neuen Roman von Iris Wolff. Nach und nach entfaltet sich kapitelweise die Vergangenheit des ungleichen Paars, wobei Wolff die vielen Schattierungen der konkreten Freundschaft stets in Bezug setzt mit den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen im Banat. Lev und Kato sind wie auch frühere Figuren Wolffs nicht ganz greifbar, werden aber authentisch gerade auch durch die nicht explizit ausformulierten, oft nur angedeuteten Eigenschaften und Erinnerungen. Was ich aber generell schade fand: Kato bleibt im Verhältnis zu Lev eher blass, weil die Geschichte aus seiner Perspektive erzählt wird.

Auf "Lichtungen" habe ich mich sehr gefreut, denn Wolffs vorheriger Roman "Die Unschärfe der Welt" zählt zu meinen Lieblingsbüchern. Auch die Leseprobe mochte ich sehr - doch obwohl das Buch sprachlich wieder sehr schöne Stellen hat, spannend konzipiert ist und natürlich auch das Cover wieder wunderschön ist, hat mich "Lichtungen" nicht ganz so überzeugen können wie der vorherige Roman. Ich habe sehr viel darüber nachgedacht und denke, dass dafür zwei Punkte besonders relevant sind:

Iris Wolffs Bücher sind aufgrund ihrer Themen, der poetischen Sprache, der puzzleartigen Anordnung ihrer Kapitel und dadurch bedingten Offenheit der Erzählung darauf angewiesen, dass man sich ihnen öffnen und sie auf sich wirken lassen kann. "Die Unschärfe der Welt" war ein Buch, das mich zu genau dem richtigen Zeitpunkt traf; ich habe es an einem Wochenende verschlungen, ausgekostet, unglaublich viele Zitate markiert und es wirkte lange nach. Bei "Lichtungen" war das - leider - anders, weshalb ich eine gewisse Distanz nicht überwinden konnte.

Das alles wäre vermutlich für mich weniger frustrierend gewesen, hätte ich nicht ihr vorheriges Buch als Vergleichsfolie - und das ist denke ich auch der dritte Punkt, der mir den Zugang erschwert hat: Meine Erwartungen waren wahnsinnig hoch, ich wollte gleichzeitig all die vertrauten Elemente und etwas ähnlich neues und Überraschendes. Vertrautes findet sich in dem Roman viel: Wieder ist die Sprache eine, die schwere Inhalte scheinbar leicht daherkommen lässt, ist die Handlung offen und unabgeschlossen. Die Unabgeschlossenheit ließ mich aber diesmal eher unbefriedigt zurück. Vermutlich auch wegen der gewählten Erzähstruktur, bei der die Geschichte von Lev und Kato von der Gegenwart bis in ihre Kindheit nach und nach offengelegt wird und sich der Blick daher in die Vergangenheit richtet, kam mir persönlich das Überraschende zu kurz, war die Handlung mir zu vorhersehbar. Dadurch blieb meine Spannung trotz der anfänglichen Begeisterung nicht dauerhaft hoch und das letzte Drittel las ich zwar immer noch interessiert, aber nicht mit dem Wunsch, das Buch möglichst intensiv auszukosten. Das war bei "Die Unschärfe der Welt" anders.

Mein Fazit zu der sehr persönlichen Rezension zu diesem Buch ist daher, dass ich zu einem nicht ganz passenden Zeitpunkt mit zu vielen Erwartungen an den Roman herangegangen bin. Ich denke, ich lese das Buch irgendwann nochmal und vermutlich ist mein Eindruck dann ein anderer. Dass man es mehrmals lesen kann, legt schon die Struktur nahe. Denn es könnte ziemlich spannend sein, "Lichtungen" zunächst in der beabsichtigten Reihenfolge von der Gegenwart in die Zukunft zu lesen und danach "rückwärts", d.h. beginnend in der Kindheit von Lev und Kato.