4842 Tage Gefangenschaft

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In ihrem Debut-Psychothriller „Liebes Kind“ greift Romy Hausmann auf alle Zutaten zurück, die ein sehr guter psychologischer Thriller benötigt: eine gute Darstellung von psychischen Krisenmomenten, facettenreich gestaltete Charaktere und Beziehungsverhältnisse, eine einfallsreiche erzählerische Gestaltung mit hohem Tempo und mit spannungserzeugenden Elementen wie Cliffhangern, mit einer plausiblen Auflösung am Ende und mit unerwarteten Wendungen, sowie nicht zuletzt eine innovative Herangehensweise. Denn die Autorin beginnt dort mit ihrer Erzählung, wo andere Autoren aufhören, und zwar an dem Punkt, als das Opfer sich aus den Fängen des Täters befreit und ihm entkommt. Damit hebt dieser Thriller sich von anderen ab, weil vor allem die Opferperspektive psychologisch ausgelotet wird. Und das ist durchaus verstörend und belastend beim Lesen.
Romy Hausmann bindet verschiedene Blickwinkel ein. Da ist zum einen die Perspektive der Eltern, die ihr Kind vermissen: Matthias und Karin. Bedrückend wird die Qual deutlich, die beide durchleben. Matthias wirkt kämpferisch, gibt nicht auf, die Sorge um seine verlorene Tochter treibt ihn um. Doch der ungeheure Druck, der auf ihm lastet, bricht sich auch Bahn in Form von Handgreiflichkeiten. Karin geht anderes mit der Situation um als Matthias und beide machen sich auch gegenseitig Vorwürfe. Das ist interessant zu lesen.
Eine weitere Perspektive, die die Autorin in die Handlung integriert, ist die von Hannah. Hannah ist die Tochter des Täters, die ebenfalls entkommen ist. Sie hat das Asperger-Syndrom und zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine fantasievolle Innenwelt besitzt, die nicht immer der Realität entspricht. Die Darstellung dieser kindlichen Perspektive ist sicherlich eine erzählerische Herausforderung, zumal ihr Vater für sie kein kranker Triebtäter war und das Leben in der Hütte ihre Normalität darstellte. Hier offenbart Romy Hausmann in meinen Augen ihr schriftstellerisches Talent, indem sie das alles erzählerisch und sprachlich plausibel zum Ausdruck bringt.
Den letzten Blickwinkel, den die Autorin einbaut, ist die Opferperspektive von Jasmin, die nach ihrer Flucht von den schrecklichen Erlebnissen traumatisiert ist. Ihre Perspektive war beim Lesen für mich die bedrückendste und verstörendste. An ihrem Beispiel wird vor allem deutlich, was es mit einem Menschen macht, wenn er entführt und gefangen gehalten wird.
Die Blickwinkel von Matthias, Jasmin und Hannah werden allesamt aus der Ich-Perspektive und im stetigen Wechsel geschildert. Und durch die geschickte Platzierung der Perspektivänderung wird oft Spannung erzeugt. Das ist schon richtig gut gemacht. Als weiteres belebendes Element greift Romy Hausmann auch auf Zeitungsartikel zurück, die sie an passenden Stellen einbaut, um einerseits die Rolle der Presse zu verdeutlichen, die durchaus kritisch beleuchtet wird, als auch um ausführlichere Hintergründe zum Fall zu vermitteln. Das hat mich ebenfalls überzeugt.
Was auch lobenswert zu erwähnen ist, sind die facettenreich gestalteten Beziehungsverhältnisse. Außer der bereits erwähnten Beziehung von Matthias und Karin gibt es zwei weitere interessante Freundschaften, die in den Mittelpunkt gerückt werden: So steht Matthias hin und wieder mit dem Polizisten Gerd Brühling in Kontakt, der ihm Insider-Infos der Polizeiarbeit zukommen lässt. Und Jasmin wird von ihrer ehemaligen Mitbewohnerin Kirsten freundschaftlich umsorgt. Das habe ich als sehr bereichernd erlebt. Auch die Entwicklung des Verhältnisses von Hannah zu ihrem Opa Matthias und ihrer Oma Karin verleiht der Handlung zunehmend „Würze“. Das macht den Psychothriller nach meinem Dafürhalten zu einem sehr durchdachten und vielschichtigen Werk, auch weil Hannah die ganze Zeit sehr mysteriös und geheimnisvoll wirkt. Man ahnt die ganze Zeit, dass mit ihr etwas nicht stimmt, das verleiht der Handlung eine gute Triebkraft.
In sprachlicher Hinsicht hat mir gut gefallen, dass Hausmann so eine Art assoziative Gedankenblitze einflechtet, die mal auf die Gegenwart oder mal auf die Vergangenheit Bezug nehmen. So kommt punktuell auch Gedankliches der Figuren gut zum Ausdruck und es zeigt den labilen psychischen Zustand.
Das einzige, was ich bemängeln kann, ist der Umstand, dass die Darstellung der Psychiatrie und der Presse stellenweise etwas klischeehaft daherkommt, es hat mich aber nicht sehr gestört. Deshalb gebe ich diesem gelungenen Psychothriller volle fünf Sterne und freue mich auf die Lektüre weiterer Bücher von Romy Hausmann.

Fazit: Ein durchdachter und vielschichtiger Psychothriller, bei dem alles stimmt, was einen sehr guten Thriller ausmacht. In meinen Augen kann man ihn sogar als herausragend bewerten, weil er viele innovative Elemente enthält, die nicht in jedem Thriller zu finden sind. Absolute Leseempfehlung!