Ein erschreckendes Szenario

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nabura Avatar

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In einer abgelegenen Hütte im Wald hält ein Mann eine Frau und zwei Kinder gefangen. Ihr Tagesablauf ist komplett von ihm abhängig und sie müssen jede seiner Regeln befolgen, um nicht bestraft zu werden. Doch dann gelingt der Frau die Flucht. Sie stolpert auf die Straße, wird angefahren. Gemeinsam mit ihrer Tochter wird sie ins Krankenhaus gebracht. Das Mädchen gibt an, dass ihre Mama Lena heißt. Handelt es sich etwa um Lena Beck, die vor über dreizehn Jahren spurlos verschwand. Voll banger Hoffnung machen sich Lenas Eltern auf ins Krankenhaus. Was sie dort finden, wirft jedoch mehr Fragen auf, als es beantwortet…

In der Beschreibung dieses Buches wird die jahrelange Gefangenschaft einer Frau in einer Hütte im Wald angedeutet. Damit wird das Thema angedeutet, ich hatte aber dennoch nur eine geringe Vorstellung, was mich genau erwarten wird. Beschreibungen dieses jahrelangen Schreckens? Insofern wurde ich überrascht, als das Buch nicht in der Hütte beginnt, sondern im Krankenhaus. Die Gefangene ist nämlich geflohen. Weil sie von einem Auto erfasst wurde, ist sie noch nicht ansprechbar, und ihre Tochter Hannah redet in Rätseln. Was ist wirklich vorgefallen?

Die einzelnen Informationsstücke, die man als Leser zu Beginn erhält, wollen nicht so recht zusammenpassen, weshalb meine Neugier geweckt war, mehr darüber herauszufinden, was vorgefallen war. Immer wieder denkt Hannah an das Leben in der Hütte und die klaren Regeln zurück, zum Beispiel, dass sie immer ihre leeren Hände zeigen muss, wenn ihr Papa kommt und man alles tun muss, was ein Erwachsener sagt. Sie scheint all diese Regeln tief verinnerlicht zu haben und ihre Lebensweise ist so selbstverständlich für sie, dass sie nur wenig Lust hat, die neugierigen Fragen im Krankenhaus zu beantworten. Ihre Sicht auf die Welt ist so verdreht, dass es sie mir beim Lesen leid tat und es gleichzeitig gruselig war, ihre Gedanken zu lesen.

Neben Hannah kommen im weiten Verlauf ihre Mama und ihr Großvater zu Wort. Beide stehen vor einer völlig veränderten Situation, müssen das erlebte verarbeiten und versuchen, sich neu zu arrangieren. Ein Prozess, der mit ganz unterschiedlichen Gefühlen verbunden ist: Angst und Wut spielen eine große Rolle, aber auch Hilflosigkeit und Schuldgefühle. Das packte mich beim Lesen emotional. Zwischendurch gibt es auch immer wieder Rückblicke in das Leben in der Hütte. Hier findet die Autorin einen guten Weg, um die erschreckende Gefangenschaft zu schildern, dabei aber nicht in Effekthascherei abzudriften.

Das Erzähltempo des Thrillers ist ruhig. Neue Informationen und Erkenntnisse, auf die ich wartete, kamen nur tröpfchenweise. Gleichzeitig verhalten sich die Protagonisten aufgrund ihrer seelischen Verfassung immer wieder irrational und verhindern damit ein Vorankommen der Aufklärung. Die Geschichte geriet dadurch ins Stocken und mich störte vor allem ein Logikfehler rund um die Spurensicherung, durch den die Geschichte überhaupt in der Form funktioniert. Ein weiterer großer Twist zeichnet sich ab einem gewissen Zeitpunkt ab, die Umsetzung kommt aber für meinen Geschmack zu spät und kann das Potenzial nicht ganz nutzen.

In „Liebes Kind“ wird ein erschreckendes Szenario beschreiben, das für die verschiedenen Protagonisten unterschiedliche Konsequenzen hat. Der Leser begleitet sie beim Versuch, ihr Leben neu zu ordnen, während ihre Gedanken immer wieder in die Vergangenheit zurückkehren. Die emotionalen Szenen ließen mich nicht unberührt. Den Handlungsverlauf fand ich jedoch nicht ganz rund. Ein solides Thriller-Debüt für Leser von emotionaler Geschichten, die ihre düsteren Geheimnisse langsam Preis geben.