Erfrischend neuer Ansatz

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
singstar72 Avatar

Von



Im ersten Augenblick dachte ich: das hatten wir doch alles schon mal. Einiges in der Leseprobe und im Klappentext erinnerte fatal an „Raum“ von Emma Donoghue. Doch schon kurz nach Beginn der Lektüre wurde mir klar, dass es hier um einen ganz anderen Ansatz geht. Romy Hausmann hat einen erfrischend neuen Weg beschritten, der mich überzeugt hat. Sie schildert das Geschehen vom Ende her – wie geht das Leben für die Opfer nach (!) der Flucht aus einer Entführungssituation weiter. Und mitten in die psychologischen Fallstricke hinein lässt sie die weitere Ermittlung – und die Auflösung – fallen.

Es ist diesmal auch nicht nur die Perspektive des Kindes, die eingenommen wird. Hier erzählen abwechselnd vier Personen: Hannah, eines der Kinder aus der Hütte, Matthias, der Vater eines Entführungsopfers, Lena, das Opfer selbst, und einer der Ermittler (dieser kommt noch am seltensten zu Wort). Für jede dieser Personen findet die Autorin eine authentische, eigene Stimme, was eine nicht zu unterschätzende Leistung ist! Am gelungensten (weil verstörendsten) finde ich dabei die Stimme von Hannah. Wie sieht ein Kind eine Welt, die es bisher nur aus der Theorie kannte? Wie wirkt dieses Kind auf Menschen in seiner Umgebung? So einige Male lief es mir eiskalt den Rücken herunter!

Erfreulich ist auch, dass die Autorin offenbar gründlich recherchiert hat. Manche Handlungsweisen oder dargestellte Sachverhalte mögen auf den ersten Blick seltsam erscheinen (zum Beispiel die psychische Situation des entkommenen Opfers, das Verhalten der Eltern, das Verhalten der Kinder aus der Gefangenschaft). Ich kenne mich jedoch ein wenig in diesem Bereich der Literatur aus. Wirklich alles, was hier geschildert wird, ist in entsprechenden Büchern von Betroffenen geschildert worden – seien es Natascha Kampusch, Jan-Philipp Reemtsma, oder Sabine Dardenne (ein ehemaliges Opfer von Dutroux). Auch im Bereich Psychologie steht das Buch auf soliden Füßen. Respekt!

Und das Ganze dann dennoch spannend zu gestalten… wirklich, Hut ab. Einerseits wird die Spannung natürlich aus dem Wechsel der Perspektiven bezogen. Andererseits aber auch daraus, dass zwar die Opfer entkommen, der Täter aber immer noch nicht identifiziert ist. Sehr geschickt und „tropfenweise“ streut die Autorin Hinweise, dass hier eine Wendung bevorsteht, mit der keiner, aber auch wirklich keiner, gerechnet hätte… Ich würde mich als erfahrenen Thriller-Leser bezeichnen, aber das Finale war durch und durch überraschend, und dennoch logisch aufgelöst. Ohne Spoilergefahr kann ich nur sagen, dass es zum Beispiel um geschönte Lebensläufe, vertauschte Identitäten, Ehekrisen und pure Perfidie geht.

Ich kann das Buch wirklich nur empfehlen! In einer erfrischenden, zupackenden Sprache wird hier deutlich gemacht, was eine Entführung alles mit sich bringt. Welche Strömungen, Themen und Zwangslagen beteiligt sein können. Wie sich die Welt nach einer solchen Tat für die Betroffenen verändert. Und das es mit dem Überleben eben nicht getan ist.