Hörbuch: Gut gemacht, interessant aufgerollt

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Wer denkt sich nur die Klappentexte bei den Verlagen aus? Ehrlich: Wenn ich die Inhaltsangabe zu „Liebes Kind“ vorher ausführlich gelesen hätte und nicht erst im Nachhinein, hätte ich mich geärgert. Weil den Lesern/Hörern nämlich ein Verdacht aufgedrängt wird, den zumindest ich von vorneherein überhaupt nicht hatte. Ich empfehle, unbedarft an die Geschichte heranzugehen.

Ganz knapp: Ja, es geht um einen Psychopathen, der eine Frau und zwei Kinder in einer Hütte im Wald gefangen hält und nach strengen Regeln leben lässt. Und ja, die Frau entkommt.

Das Buch beginnt dort, wo andere enden, nämlich unmittelbar nach der Flucht. Wer also auf eine nervenzerrende Jagd durch einsame Wälder hofft… Fehlanzeige! Eine detaillierte Beschreibung des Lebens in der Hütte? Ebenfalls Fehlanzeige.

Unterbrochen von kleinen Rückblicken beleuchtet Romy Hausmann in ruhigem Tempo Situation und Psyche dreier Figuren, die abwechselnd als Erzähler auftreten: die junge Autistin Hannah, Matthias Beck, Vater eines Entführungsopfers und die Frau, der die Flucht gelang. Und das ist tatsächlich so fesselnd, dass ich das herausragend gut eingesprochene Hörbuch an nur zwei Nachmittagen regelrecht weggeatmet habe.

Nach und nach erschließen sich einem die Traumata der Protagonisten, wobei mich vor allem Hannahs Art geflasht hat. Sie interpretiert Dinge so nüchtern, unschuldig und eigen - absolut herzergreifend! Ganz anders Matthias Beck: er hat mich mit seiner aufbrausenden, unüberlegten Art teilweise zur Weißglut gebracht. Geduld erfordert auch der Charakter der entführten Frau: gebrochen und verängstigt erzählt sie von ihren ersten Schritten in Freiheit. Authentisch fand ich sie alle. Früh ist klar, dass mindestens ein entscheidendes Puzzleteil fehlt und vermutlich erst spät eingesetzt wird. Zu enträtseln, welches es ist, hat meine grauen Zellen ganz schön auf Trab gehalten. Ich kam erst spät auf die Lösung.

Warum einen Punkt Abzug? Weil eine der Personen gegen Ende einen wirklich dummen, für mich nicht nachvollziehbaren Fehler begeht. Und weil mir das Ende auch zu standardmäßig ausgefallen ist und irgendwie nicht zu der klugen, originellen Erzählweise bis dahin passte.

Trotzdem: Ein sehr gutes Debüt. Oder, wie Hannah es formulieren würde: Ein Pageturner ist ein Buch, das so spannend ist, dass man es ganz schnell lesen (hören) möchte. Ende! Passt!