Ein eindringliches Buch über Nähe, Distanz und Selbstbestimmung

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buecher.berge Avatar

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Liebe, Sex, körperliche Nähe in jeder Form sind Dinge, die im Leben der Mitzwanzigerin und Biologin Lio keinen hohen Stellenwert haben. Eine Problematik, die sich auch in der aufkeimenden Beziehung zu Max mitsamt ihrer Schwierigkeiten offenbart. Max, der Soziologe und kompletter Kontrast du Lio. Der Radiomoderator, ein Lebemann vor Publikum, ein Mann mit Depressionen hinter verschlossener Tür. Mit einer Mutter, die Lio sofort in ihr Herz schließt, voller Verständnis, Mütterlichkeit und Feingefühl, ein starker Kontrast zu Lios Mutter. Doch die Beziehung hält, erlebt Höhen und Tiefen, Alltag, Streit, Versöhnung, Verzweiflung. Dann wird Lio ungewollt, ungeplant, unerwartet schwanger. Wie kann jemand, für den Sex ein lästiges Übel ist, das unter allen Umständen gemieden werden muss, überhaupt schwanger werden? Lio ist unfähig, Max von der Schwangerschaft zu erzählen. Und Lio ist unfähig, die Schwangerschaft zu beenden. Während der ungewollte Fötus in ihrem Bauch wächst, wird Lio von Erinnerungen heimgesucht und eingeholt. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend voller Gewalt, mit einer distanzierten, kontrollsüchtigen Mutter und einem hilflosen, überforderten Vater. Ein Leben, in dem Lios Körper nie viel Raum einnehmen durfte, eine ständige Angriffsfläche. Und ein Erlebnis, das Lio zu verdrängen versucht und trotzdem allgegenwärtig in ihrem Unterbewusstsein lauert. Erinnerungen, die Lio, so schmerzlich sie auch sind, dabei helfen, eine Entscheidung zu treffen: Für oder gegen das Kind in ihr, für oder gegen ihre Beziehung, für oder gegen sich selbst.

»Liebewesen« beginnt mit dem Zitat ganz oben. Ab da war es geschehen um mich. Ich wusste, dass das eine Geschichte ist, die ich lesen will, lesen muss. Ich behielt recht. Wie bereits »22 Bahnen« weist auch »Liebewesen« einen modernen, eindringlichen, nüchternen und gleichzeitig emotional aufgeladenen Sprachgebrauch auf, der genau meinen Nerv trifft. Lios Geschichte ging mir unter die Haut. Dieses Buch umfasst so viel, so viele Themen, die wichtig, relevant, schockierend sind. Tabus, über die gesprochen, mit denen gebrochen werden muss: Das Leben, das Lio führt, in dem Sex und jede Form von Körperlichkeit eine Belastung ist; der eigene Körper etwas, wovor sie sich ekelt, fürchtet, worüber sie sich schämt. All die Gewalt und der Missbrauch, die ihr in ihrer Kindheit und Jugend widerfahren sind, Narben hinterlassen haben, die Ursachen der notwendigen Distanz zu ihrem eigenen Körper und derer anderer bilden. Das Feststecken in einer Beziehung, bei der man nicht weiß, ob man bleibt, weil man möchte, oder weil man das Gefühl hat zu müssen. Sind andere wirklich glücklicher, zufriedener oder ist das hier das Beste, das man bekommen kann? Besonders bewegt und mitgerissen haben mich die Einblicke in ihr seelisches Innenleben ab dem Moment des Wissens um ihre Schwangerschaft. Der Fötus, ein unwillkommener Fremdkörper in ihr. Diese Verzweiflung, Panik, Schockstarre, die dazu führte, dass sie weder Max davon erzählen, noch die Schwangerschaft beenden konnte. Und dass das trotzdem in keinem Widerspruch dazu stehen muss, mit jeder Faser des Körpers zu wissen, dass man das nicht will.

»Liebewesen« ist die Geschichte einer jungen Frau, die sich befreien muss. Von der Vergangenheit, die sie verfolgt. Von Erwartungen und Meinungen anderer. Von der Kompliziertheit von Wollen und Haben, von Liebe und Beziehungen. Von der eigenen Sprach- und Hilflosigkeit. Schonungslos, intensiv, mit viel Gefühl und Distanz zugleich erzählt. Eine Befreiung zu und für sich selbst, nicht hin zu einem Gut, sondern zu einem Okay.

Das ist für mich die starke Message dieses besonderen Roman: Es ist okay, etwas nicht zu wollen. Egal ob Sex, Kind, Partner*in. Und es ist okay, noch nicht zu wissen, was man möchte. Es ist okay, sich Zeit zu lassen, seine Meinung zu ändern. Es ist okay, schwach zu sein und stark. Es ist okay, seelische, körperliche Wunden und Narben zu haben. Dein Körper gehört dir und du weißt, was das Beste für dich ist, kennst deine Grenzen, lernst, wächst, fällst, stehst auf. Es ist okay.