Einschlagend

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fraedherike Avatar

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"Ich war immer davon ausgegangen, dass ich gar nicht schwanger werden konnte. Mein Körper war kein richtiger Frauenkörper, allenfalls ein ausrangierter Prototyp. Außerdem musste die Natur doch ein Interesse daran haben, dass jemand wie ich sich nicht fortpflanzte." (S. 124)

[TW: Depression, sexueller und körperlicher Missbrauch, selbstverletzendes Verhalten, Alkoholsucht] Lichtblitze, betäubender Bass, schwitzende Körper bewegen sich zur Musik. Alles wird anders sein nach dieser Nacht, ihr Körper nie wieder eben das: ihr Körper. Sie hat Angst vor Berührung, der Gedanke an Intimität lässt sie verkrampfen - alles kommt wieder hoch. Daran ändert auch ihr Freund Max nichts. Lio war trunken vor Liebe, als sie von ihrem ersten Date nach Hause kam, verzaubert von seinem Charisma und Humor. Doch sie beide haben ihre Geschichte: Narben, über die sie nicht sprechen möchten; Erinnerungen, die sie den Boden unter den Füßen verlieren lassen. Sie versuchen, einander zu verstehen, Halt zu geben, ziehen zusammen, als könnten eine gemeinsame Wohnung das einzustürzen drohende Dach vor dem Fall bewahren. Auch wenn es immer wieder Differenzen gibt, findet ihr Alltag allmählich zusammen. Aber Lio merkt, dass etwas anders ist. Mit ihr. Zwei Streifen, dunkelrosa, mehr braucht es nicht, um ein Leben von einem Moment auf den anderen zu verändern. Sie ist überfordert, unfähig, Max davon zu erzählen, eine Entscheidung zu treffen, mit all den Erinnerungen, die das kleine Wesen in ihr hervorrufen, umzugehen. Wie soll sie jemals Liebe für es empfinden können, bei allem... Nein, sie kann dieses Kind nicht bekommen.

"Eine Schwangerschaft war ein Wunder, daran änderte auch ihre Rezeption nichts. Der Schwangerschaft war es egal wie man sie fand, ob man, wenn man von ihr erfuhr, vor Glück heulte oder vor Verzweiflung, sie machte einfach weiter, jedenfalls in 85 Prozent der Fälle, über die anderen fünfzehn redete niemand, also existierten sie nicht. Ihr war egal, ob man sich den Bauch einölte, mit anderen Schwangeren Übungen im Kreis machte oder ihr klassische Musik vorspielte. Wenn ich nichts weiter tun würde, als für mein körperliches Fortbestehen zu sorgen, wäre in ein paar Monaten höchstwahrscheinlich ein Mensch fertig, der robuster sein würde, als er wirkte." (S. 136f)
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Dieses Buch tut weh. Und man kann einfach nicht aufhören. Immer fester drückt es zu, dass einem die Luft wegbleibt. Ungemein authentisch, ohne sich gängiger Klischees zu bedienen oder Dinge schönzureden, erzählt Caroline Schmitt in ihrem Debütroman „Liebewesen“ von transgenerationalen Traumata und Gewalt, von Liebe und Leere, von Vorwürfen und Geheimnissen, Freundschaft - und einer ungewollten Schwangerschaft. Kurz: vom Leben. Zärtlich beschreibt sie, wie Lio und Max sich kennenlernen, die Welt rosarot, doch je intensiver ihre Beziehung wird, desto deutlicher zeigen sich ihre jeweiligen Narben: Max‘ Depressionen und Verlustängste eine Mutter, die bereut, Mutter geworden zu sein, und Lio das mit jeder Faser spüren lässt; ein Vater, der dem Alkohol verfallen ist; ein Körper, der Angst vor Berührung und Intimität hat, traumatisiert ist. Der nicht mehr der ihre ist: weil er von ungewollter Hand berührt worden ist – und sie ihn sich nun plötzlich teilen muss.
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Fließend leicht flicht Schmitt die Erinnerungen an früher, an die Erlebnisse, die ihr, Lios gegenwärtiges Verhalten und ihre Verschlossenheit, begründen, in die Erzählung ein, gibt ihr immer mehr Farbe und Substanz, und verdichtet sie gleichzeitig aber zu einem schnellen, aufgeladenen Plot, der sich im zweiten Teil durch einen feinen stilistischen Wechsel zu einer Art Countdown verkehrt.
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"Ich wollte meinen Körper vor der Außenwelt beschützen. Vor all denen, die keine Ahnung hatten, wie schwierig es war, ihn zu lieben. Vor denen, die sich von Äußerlichkeiten blenden ließen." (S. 136)
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Und immer wieder diese Sätze, die unvermittelt und schmerzhaft einen Nerv treffen, weil sie so echt sind. Ich habe alles so sehr gefühlt: Lios Zerrissenheit, ihre Unsicherheit, ihre Ängste und Schmerzen, das Blut. Ihre Einsamkeit in der Zweisamkeit. All diese Gefühle, sie sind mir selbst nur zu bekannt, unbändige Hormonwellen, die die Gedanken befeuern; ein Spiegelkabinett, das nicht mehr klar sehen lässt. Wohl eines der ehrlichsten, schmerzhaftesten und zugleich schönsten Debüts in diesem Jahr!