Eindringlich

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In Mexiko werden täglich zehn Femizide verübt, ein Verbrechen, das nicht primär auf sexueller Motivation beruht, sondern als ein Akt der Machtausübung verstanden wird, um den weiblichen Körper zu unterwerfen. Der Gewaltakt erwächst aus Hass, der sich gegen Frauen richtet, allein weil sie Frauen sind, so die Autorin und Historikerin Christina Rivera Garza in ihrem Buch „Lilianas unvergänglicher Sommer“. Darin erzählt sie ihre ganz persönliche Geschichte von der Ermordung ihrer jüngeren Schwester Liliana, die als 20-jährige Studentin am 17. Juli 1990 mutmaßlich von ihrem Ex-Freund erstickt wurde. Damals sprach die Polizei noch von einem Verbrechen aus Leidenschaft, Femizide wurden in Mexiko erst 2012 als Straftatbestand ins Gesetzbuch aufgenommen.

„So ist das Leben in Trauer: Man ist nie allein. Unsichtbar und doch eindeutig begleitet uns die Präsenz der Toten in so vielfältiger Weise in all den kleinen Zwischenräumen unserer Tage. Sie sind über unseren Schultern, in unseren Stimmen, im Echo unserer Schritte. Über den Fenstern, am Saum des Horizonts, zwischen den Schatten der Bäume. Sie sind immer da und hier, bei uns und in uns, sie wärmen uns und beschützen uns vor der Weite der Welt.“ Cristina

Die Autorin berichtet vom Schmerz, von ihrer Schuld und Scham, die ihre Trauer überlagerten und ihr erst jetzt erlaubten, sich mit der Vergangenheit und dem Verlust auseinanderzusetzen. 30 Jahre nach diesem Ereignis will sie Gerechtigkeit für ihre Schwerster und beantragt Akteneinsicht. Nur ist diese nicht auffindbar, und so legt Cristina ihr eigenes Archiv ihrer Schwester an. Sie öffnet Kartons mit Lilianas Erbe, die sich lange Zeit niemand traute hervorzuholen. Liliana hat akribisch Tagebuch geführt, Briefe geschrieben und Gedanken sowie Gedichte auf Zetteln festgehalten, die Cristina nun sichtet, sortiert und in einen Kontext setzt. Sie befragt ihre Schulfreund*innen, Schwimmvereinskolleg*innen, Verwandte sowie ihre Kommiliton*innen. Und so baut sich uns ein Bild von Liliana auf, einer intelligenten, freien, lachenden, geselligen Frau, die das Leben liebte. Sie wird als Amazone, als Anführerin, als Rebellin, als Intellektuelle und Leseratte beschrieben, die ihren Freund*innen magische Momente bescherte und sie nachdrücklich prägte. Die Beziehung zu Ángel erstreckte sich über mehrere Jahre, mal waren sie zusammen, dann wieder nicht. Er wollte sie nicht gehen lassen, verfolgte, bedrängte und erpresste sie. Cristina fragt sich, ob Liliana erkannt habe, wie sich aus der ehemals jungen Liebe Hass entwickelte und sich eine reale Bedrohung, die in tödlicher Gewalt enden könnte, aufbaute und ob es deutliche Anzeichen, ein Hilferuf gab und sie ihr hätte beistehen können.

„Liliana aber liebte das Leben, die Straße, das Kino, ihre Freund:innen, die Architektur, Manolo, mich, und auch Ángel. Das war ihre Superkraft, und zugleich ihre Achillesferse.“

Leser*innen dürfen hier keinen Kriminalroman mit einer Suche nach dem bislang flüchtigen Täter erwarten, womit ich anfangs zumindest in Teilen gerechnet habe. Cristina taucht in die Vergangenheit ab und setzt hingegen das Opfer ins Zentrum, wiederentdeckt ihre Schwester. Mit ihren und den Erinnerungen von Lilianas Freund*innen sowie mit Lilianas eigener Stimme in Form der aufbewahrten Notizen wird sie lebendig. Wir folgen ihr an die Uni, machen mit ihr und ihrer Clique Urlaub und erleben ihre Blütezeit. Eindringlicher wird es gerade im letzten Drittel des Buches, als wir zu Lilianas letzten Tagen kommen und auch aus verschiedenen Perspektiven die erste Zeit ohne sie erleben.

„Ich habe Liliana immer viel Freiheit gelassen. Genau wie dir. Ich habe immer an die Freiheit geglaubt, weil wir uns nur in Freiheit selbst erkennen können. Die Freiheit ist auch nicht das Problem. Das Problem sind die Männer.“ Lilianas und Cristinas Vater Antonio

Fazit

Cristina Rivera Garza vermittelt uns in ihrem Buch ein warmes Porträt ihrer Schwester, einer jungen Frau mit Strahlkraft und zeigt, wie wichtig es sein kann, genauer hinzusehen, nachzufragen und füreinander da zu sein.