Erinnerung an ein viel zu kurzes Leben

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Cristina Rivera Garza wusste lange nicht, was sie sagen sollte, wenn sie gefragt wurde, ob sie Geschwister habe. Denn sie hatte einmal eine fünf Jahre jüngere Schwester, Liliana. Doch diese Schwester hat sie im Jahr 1990 verloren, als diese von ihrem Ex-Freund ermordet wurde, als junge mexikanische Studentin im Alter von 20 Jahren. 29 Jahre später beginnt Cristina, diese persönliche Geschichte literarisch aufzuarbeiten.

In ihrem vielfach preisgekrönten Memoir „Lilianas unvergänglicher Sommer“ begibt sie sich mit Hilfe der umfangreichen Hefte, Notizen, Aufzeichnungen, Collagen, Pläne, Briefe, Kassetten und Kalender, die ihre Schwester hinterlassen hat, auf eine sehr persönliche Reise, um das kurze, aber eindrucksvolle Leben Lilianas und die Zeit bis zu ihrer Ermordung festzuhalten und mit der Welt zu teilen. Zusätzlich zu der Materialfülle, die ihre Schwester selbst hinterlassen hat, hat Cristina Interviews mit Verwandten und Freunden Lilianas geführt.

Es ist ein eindrucksvolles und sehr persönliches Buch über eine lebensfrohe und intelligente junge Frau, das mich sehr berührt hat. Das Buch ist in verschiedene Teile gegliedert, die sich sehr unterschiedlich lesen.

Für mich persönlich am wenigsten interessant waren die ersten ca. 40 Seiten, in denen sich Cristina gemeinsam mit einer Freundin auf Spurensuche durch die Kriminalarchive Mexikos begibt und an der Bürokratie und Ignoranz des Staatsapparats scheitert: die Akte ihrer Schwester bleibt verschwunden und kann nach 29 Jahren nicht mehr gefunden werden, auch wenn ihr schriftlich bescheinigt wurde, dass sie als Schwester ein Recht auf Aushändigung einer Kopie hätte, wenn die Originalakte auftauchen würde.

Die Autorin erzählt ihre mühsame Suche authentisch und in vielen Details, das entspricht bestimmt ihrer realen Erfahrung damit und der Frustration über das Scheitern, aus der aber schließlich auch ihr Entschluss für die Arbeit an diesem Buch entstand. Wer sich jedoch beim Reinlesen in diese Teile noch nicht so sehr für das Buch erwärmen kann, dem empfehle ich, diese Seiten zu überblättern und mal in die späteren, sehr persönlichen und berührenden Kapitel hineinzuschauen, für die sich das Buch definitiv lohnt. Es wäre schade, wegen dieser ersten Seiten ein tolles Buch zu verpassen.

Danach lernen wir Lilianas Leben und Familiengeschichte kennen: ihre Schwester erzählt von ihr, aber wir dürfen auch ganz direkt in Kontakt mit ihr kommen: durch die vielen Briefe und Notizen, die für das Buch aus dem spanischsprachigen Original übersetzt, aber ansonsten originalgetreu wiedergegeben werden.

Wir erleben mit, wie Liliana sich für das Schwimmen begeistert, genauso wie für das Briefe schreiben, wie sie als Jugendliche und junge Erwachsene unzählige Briefe mit Freunden und Verwandten austauscht, wie viel Liebe sie in sich trägt und herzlich ausdrückt, aber auch, wie sie als sehr junge Frau erstmals Ángel in einem Fitnessstudio kennen lernt, der jahrelang um sie wirbt, bis sie eine Beziehung mit ihm beginnt. Liliana ist Ángel in vielerlei Hinsicht überlegen: sie ist eine sprachbegabte junge Frau, er ringt um Worte und kämpft mit der Rechtschreibung. Ihr Vater arbeitet an seiner Promotion und forscht im Bereich Genetik, während er aus sehr einfachen Verhältnissen stammt. Und doch geht sie erst einmal auf sein Werben ein und genießt es, dass der zwei Jahre ältere Mann sie mit Auto und Motorrad herumfahren kann. Doch bald wird ihr die Beziehung zu eng, Ángel ist misstrauisch und eifersüchtig, er engt sie ein, während sie frei sein will. Diese Konflikte verschärfen sich, als Liliana zu studieren beginnt, während Ángel die Aufnahmeprüfung für die Universität nicht geschafft hat.

Die Zeit Lilianas auf der Universität nimmt auch großen Raum in dem Buch ein. Basierend auf den Interviews, die ihre Schwester Cristina geführt hat, wird die Perspektive verschiedener Freundinnen und Kommilitonen Lilianas auf die junge Frau lebendig: auch hier zeigt sich wieder das Bild einer lebensfrohen, extrovertierten, vor Witz sprühenden und selbstbewussten jungen Frau, die frei sein will und die spricht und sich bewegt wie eine freie Frau.

Doch im Hintergrund spitzt sich das Drama zu: Liliana will sich mehrmals von Ángel trennen und beendet die Beziehung schließlich endgültig, doch er stellt ihr nach, bedroht sie, erpresst sie und es gibt erste Spuren auf körperliche Misshandlung, bis zu ihrer Ermordung durch ihn.

Zusätzlich zu Lilianas persönlicher Geschichte beschäftigt sich die Autorin, die selbst Soziologie studiert hat, mit dem Stellenwert des Femizids in der mexikanischen Gesellschaft. Sie beschreibt, wie es damals, 1990, dieses Wort noch nicht in der öffentlichen Wahrnehmung gab und den ermordeten Frauen meist zumindest eine Mitschuld zugeschrieben wurde. Gleichzeitig arbeitet sie klar heraus, wie falsch diese Ansicht ist und dass der Unterschied, ob man als junge Frau von einem eifersüchtigen, gewalttätigen Mann ermordet wird oder nicht, oft einfach ein zufälliger ist: ob man das Pech hatte, einem Mörder über den Weg zu laufen, oder ob man davon verschont geblieben ist.

Ein wichtiges und sehr berührendes Buch, das völlig zu Recht den Pulitzer-Preis und weitere Auszeichnungen bekommen hat, das für ein sehr wichtiges Thema sensibilisiert und gleichzeitig einer beeindruckenden jungen Frau ein Denkmal setzt und dem ich eine breite Leserschaft wünsche!