Hinsehen, wo wegsehen so viel einfacher wäre

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Cristina Rivera Garzas Buch hat mich nicht losgelassen. Lilianas unvergänglicher Sommer ist kein Roman, in den man eintaucht, um abzuschalten. Es ist ein Schrei – nach Sichtbarkeit, nach Erinnerung, nach einer Sprache für das, was uns oft sprachlos macht.

Die Autorin rekonstruiert das Leben und Sterben ihrer Schwester Liliana, die Opfer eines Femizids wurde. Aber sie schreibt nicht so, wie man es vielleicht erwarten würde – nicht mit großen Pathos, nicht mit dramatisierten Szenen. Sondern mit einer fast nüchternen Genauigkeit. Und gerade in dieser Sachlichkeit steckt das Erschütternde: Die Gewalt wird nicht ausgeschmückt, sondern schlicht benannt. Und doch liegt darin eine Wucht, weil die Kälte der Fakten die ganze Grausamkeit umso deutlicher macht.

Was mich besonders bewegt hat, ist, wie klar Rivera Garza zeigt, dass die Aufarbeitung von Femiziden in Mexiko – und weit darüber hinaus – nicht nachhaltig betrieben wird. Dass Verfahren versanden, Akten verschwinden, Täter nicht klar benannt werden. Gewalt von Männern gegen Frauen wird verschleiert, sprachlich abgemildert, institutionell entpolitisiert. Das Buch legt genau diesen Mechanismus offen, ohne ihn in lauten Parolen zu entlarven, sondern indem es die Leerstellen sichtbar macht.

Gleichzeitig geht es nie nur um den Mord. Liliana wird als ganze Person erinnert: als junge Frau voller Energie, Ideen und Sehnsucht nach Freiheit. Das macht die Lektüre doppelt schmerzhaft – weil man spürt, was verloren ging, und weil klar wird, dass dieses Verschwinden eben nicht nur ein Einzelschicksal war, sondern eingebettet ist in eine Struktur.

Für mich ist Lilianas unvergänglicher Sommer ein unbequemes, notwendiges Buch. Es zwingt dazu hinzusehen, wo Wegsehen so viel einfacher wäre. Es ist kein Buch, das tröstet. Aber es gibt Liliana ein Stück ihrer Würde zurück – und macht damit sichtbar, wie viel unsere Sprache, unsere Archive, unsere Erinnerungspolitik zu leisten hätten, wenn wir es ernst meinen mit Gerechtigkeit.