Streben nach Glück

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lili_an Avatar

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"Was hier zählt, sind ihre eigene Stimme und ihre eigenen Worte."

Was für ein kraftvolles, wichtiges, schönes, erschütterndes, tragisches Buch.
30 Jahre nach dem Femizid an ihrer Schwester Liliana Rivera Garza überwindet Cristina ihre lähmende Trauer und macht sich auf die Suche nach der Vergangenheit, nach Gerechtigkeit.
Schon bald folgend wir nicht mehr Cristina im Hier und Jetzt - aus Lilianas eigenen Notizen und Tagebüchern hat sie liebevoll Lilianas Leben rekonstruiert. Das gibt einen einmaligen Einblick in ihr Leben, ihre Gefühle, ihre Entscheidungen, ihre Empfindungen. Das ist so wichtig, denn sonst kann kaum ein Opfer von Femizid ihre eigene Perspektive darstellen. Ihre eigene Stimme, ihre eigenen Worte kommen hier zum Tragen.
Wie ergeht es jungen, aufgeschlossenen, interessierten Frauen in einer Welt von Patriarchat, Besitzansprüchen und Gewalt? Und noch viel wichtiger: Wie ergeht es ihnen, wenn sie nie gelernt haben psychische und physische Gewalt in Beziehungen als solche zu erkennunen und nicht als romatische Zeichen von Innbrunst oder Hingabe? Wie geht es Liliana, die nur nach ihrem persönlichen Glück strebt, sich selbst zu einer Erwachsenen entwickeln will und so durstig nach dem Leben ist, und die dabei viel zu früh, viel zu naiv, auf einen viel zu kaputten Jungen trifft, der ihre Freiheit nicht akzeptieren kann?

Ein absolut wichtiges Werk, gerade in aktuellen Zeiten in denen so viel über Frauenrechte und körperliche Selbstbestimmung diskutiert wird. Ein absolut berührendes Werk, in dem ein strahlendes junges Mädchen voller Liebe sich in patriarchal romatischen Besitzansprüchen verheddert und so nicht nur ihre Freude sondern auch ihr Leben einbüst.
Das hier ist sicher kein einfaches Buch zu lesen, aber dennoch um so wichtiger, dass man es tut.



Lieblingszitate:

Wir sind andere und doch immer dieselben. Frauen, die sterben und dennoch lebendig sind. Frauen, die Gerechtigkeit fordern. Erschöpfte Frauen, die zusammenhalten und füreinander einstehen. Empörte Frauen mit jahrhundertealter Geduld. Unendlich wütende Frauen.

»Artikel 325: Ein Femizid ist die Tötung einer Frau aufgrund ihres Geschlechts.« Vor diesem Datum wurden Femizide als »Verbrechen aus Leidenschaft« bezeichnet. Die Opfer waren leichte Mädchen und ungezogene, gotteslästernde Frauen. Femizide hatten viele Namen: Warum muss sie sich auch so anziehen? Oder: Frauen müssen sich erst einmal selbst respektieren lernen. Sie wird schon irgendwas gemacht haben, um so zu enden. Ihre Eltern sind schuld. Sie hat eine schlechte Entscheidung getroffen. Sie hat es verdient.

Angesichts des Unfassbaren wussten wir nicht, was wir tun konnten. Also sind wir verstummt. Und dich wickelten wir in unser Schweigen ein, um dich zu schützen, machtlos angesichts der Straflosigkeit, der Korruption, der mangelnden Gerechtigkeit. Wir waren einsam und geschlagen. Erledigt. Wir waren so tot wie du. So atemlos wie du. Und während wir uns durch die Schatten der Tage schleppten, vermehrten sich die getöteten Frauen. Immer mehr Frauen wurden von der Welle der Gewalt mitgerissen, junge wie alte, aus Arbeiterhaushalten wie aus wohlhabenden.

Während die Erwachsenen in ihrem Leben annahmen, dass die Mädchen weder Libido noch Sexualität hatten, oder darauf vertrauten, dass sie sie, falls vorhanden, unterdrücken würden, vor allem diejenigen, die in streng katholischen Familien aufwuchsen, pirschten die Mädchen sich langsam und vorsichtig, aber doch bestimmt, an die Welt der Körper heran.

Gab es in ihrem Umfeld, in unserem Umfeld, eine Sprache, die es ihr ermöglicht hätte, die Warnzeichen zu sehen und zu identifizieren?

Neben dem klugen Mädchen, der guten und manchmal besorgten Freundin, der redegewandten und schlagfertigen jungen Frau, die mit Worten heilen und verletzen konnte, neben der Studentin, die sich mehr und mehr für ihr Fach begeisterte, der Scharfsinnigen, wie sie einer ihrer Freunde beschrieb, der charismatischen Anführerin, neben der Frau, die immer mehr an sich selbst glaubte, war da auch die Liliana, die trotz allem, was sie bewegte, keine Sprache finden konnte für die Gewalt, die ihr auf den Fersen war. [...] Diese Blindheit, die nicht individueller, sondern gesellschaftlicher Natur war, hat zur Ermordung Hunderttausender Frauen beigetragen, in Mexiko und darüber hinaus.

Die Forderung der Grünen Flut ist daher heute so wichtig und aktuell wie bei ihrer Entstehung zu Beginn des 21. Jahrtausends: sexuelle Bildung, um Entscheidungen treffen zu können, Verhütung, um nicht abtreiben zu müssen, legale Abtreibung, um nicht sterben zu müssen.

Wenn du von einem Bären angegriffen wirst, stellst du dich dem Kampf, obwohl du weißt, dass er dich lebensbedrohlich verletzen kann? Oder stellst du dich lieber tot?»Opfer partnerschaftlicher Gewalt bleiben in der Beziehung, weil sie wissen, dass jede plötzliche Bewegung den Bären provoziert.

Wenn du zerbrichst, dann brich aus, nicht ein.

Ich habe Liliana immer viel Freiheit gelassen. Genau wie dir. Ich habe immer an die Freiheit geglaubt, weil wir uns nur in Freiheit selbst erkennen können. Die Freiheit ist auch nicht das Problem. Das Problem sind die Männer.