Ungesühnte Verbrechen

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Die Autorin Cristina Rivera Garza begibt sich 29 Jahre später auf die Suche nach dem Mörder ihrer Schwester, deren damaligen Freund, der ungeschoren davon kam. Aus Ermangelung von Prozessakten rekonstruiert sie über Aufzeichnungen und Briefe ihrer Schwester sowie über Aussagen ihrer Freunde und Kommilitonen die Beziehung ihrer Schwester zu ihrem späteren Mörder und sucht nach Hinweisen, die die Tat im Vorfeld angedeutet hätten. Ihr Ziel ist Gerechtigkeit für ihre Schwester in einem Rechtssystem, das gerade im Hinblick auf Gewalt gegenüber Frauen den Tätern zu viele Schlupfwinkel lässt. Dieser Weg ist nicht nur aufgrund der langen Dauer, die das Verbrechen zurückliegt, und der fehlenden Akten ein schwieriges Unterfangen, sondern auch emotional und seelisch.
Mit ihrem Buch thematisiert die Autorin nicht nur das erschütternde Schicksal ihrer Schwester, sondern verleiht allen Opfern eines Femizids, eines Gewaltverbrechens aufgrund der Geschlechtszughörigkeit, eine Stimme. Sind Gewaltverbrechen in Beziehungen auch in Deutschland noch immer ein viel zu sehr totgeschwiegenes Thema, so gilt dies für Mexiko mit seinen machistischen und patriarchalen Strukturen umso mehr. Dort ist das Narrativ vom Opfer, das durch sein Verhalten, seine Kleidung oder was auch immer quasi selbst die Schuld am Verbrechen ihm gegenüber, noch wesentlich gängiger, die Zahl der durch Gewalt „aus Leidenschaft“ getöteten Frauen noch größer und die Strafverfolgung noch nachlässiger. Dies legt die Autorin auf der sachlichen Seite ihrer Darstellung sehr eindrucksvoll nahe.
Ebenso zeichnet sie ein vielstimmiges, beeindruckendes Zeugnis ihrer Schwester als junger Frau, die nicht nur im Hinblick auf ihren Freiheitsdrang und ihr Selbstverständnis als Frau, sondern auch in ihrer Persönlichkeit, ihrem Lebensfrohsinn und ihrer Liebenswürdigkeit exzeptionell erscheint. Auch in diesem Teil ist das Buch sehr beeindruckend.
Schwierig für mich wird die Lektüre in den sehr subjektiven Betrachtungen der Schwester, in ihren häufig metaphorisch umschriebenen Gefühlen sowie auch in den sehr persönlichen Briefen der Schwester, die oft ohne den Kontext nur schwer zu verstehen sind. Bisweilen sind mir die Zusammenhänge mit dem Leben der Familie, der Vater als Doktorand im Ausland, und der Schwester, ihr Feminismus und Kommunenleben, nur sehr locker assoziativ gefügt. Dann entsteht bei mir eine Art der Befremdung und der Lesefluss stockt.
Das allgemeine Thema hinter der subjektiven Geschichte ist aber durchaus bedeutsam, gehört zu werden.