Schmerzhaftes Mitfühlen

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marcello Avatar

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Nikola Hotel gehört zu den deutschen Autoren, deren Bücher ich schon echt oft gesehen habe, aber ich habe mich angesichts des Überangebots noch nicht näher mit ihr beschäftigt. Jetzt kam mir der erste Band der neuen Reihe „Lost Girls“ als Hörbuch vor die Nase. Die ganze Farbgestaltung ist herrlich intensiv, sodass ich gleich angezogen war. Aber auch der Klappentext hat neugierig gemacht, sodass ich gleich an Antonia Wesseling denken musste, die ich ebenfalls dieses Jahr für mich entdeckt habe und die sich einer Liebesgeschichte auch nicht einfach nur gemütlich gewidmet hat, sondern mit einer Thematik, die richtig nachdenklich macht.

Wesseling hatte sich in „Loverboy“ mit der gleichnamigen Betrugsmasche beschäftigt, Hotel wiederum gibt hier sehr intensive Einblicke in eine Beziehung mit schlimmem häuslichem Missbrauch. Hier war eine Triggerwarnung wirklich extrem nötig, denn große Teile bilden diese Beziehung ab. Ich muss auch sagen, dass es durch das Hörbuch auch eine ganz andere Dynamik für mich hatte. Beim Lesen bin ich darauf angewiesen, was bei mir alles im Kopf ausgelöst wird, was konkrete Bilder verursacht, was einfach nur Gefühle erweckt etc. Aber beim Hörbuch kommt ein gewaltiger Unterschied hinzu, denn die Erzählstimmen können zusätzlich etwas verursachen. Hier haben wir mit Dagmar Bittner, die für uns zu Darcy wird und sie hat es eindeutig geschafft, dass ich wirklich oft sehr gelitten haben. Es gab wirklich bedrohliche Szenen, in denen regelrecht mein Stresspegel nach oben schoss. Dann wiederum gab es einfach Gedankenspiralen, die mir für Darcy so weh taten. Also wirklich, das Hörbuch hat für mich dieses Buch intensiver gemacht, ich kann mir aber umgekehrt vorstellen, wenn man sich angesichts der Thematik ohnehin schon unsicher ist, dass man lieber per Lesen reinschnuppert.

Wohl jeder hat in seinem Umfeld wohl schon mal eine Beziehung erlebt, die einen sofort an Toxik denken lassen. Es gibt da viele Stufen, es ist auch nicht immer einseitig, aber man merkt immer wieder, wie wenig Einfluss man von außen nehmen kann, weil da Prozesse ablaufen, in denen man nur abwarten kann, bis die betroffene Person hilfesuchend die Hand ausstreckt. Es ist ähnlich wie Suchtverhalten, aber dennoch anders, aber jedenfalls einfach ein Thema, was einen mitnimmt, unweigerlich. Dementsprechend erstmal Hut ab für die Autorin, die hier den Mut hat, häuslichen Missbrauch nicht nur als kleine Ausgangsgeschichte für eine zweite, gesunde Liebesgeschichte einzuweben, sondern sie im Grunde zum zentralen Thema macht. Ich fand die Figurengestaltung unglaublich intensiv. Selbst Jason als Antagonist war richtig, richtig stark gemacht, weil er mich echt das Schrecken gelehrt hat. Es war schon intensiv, seine ganzen Verhaltensweisen zu interpretieren und miteinander zu verbinden. Das Perfide seiner Taten, seine ganzen Methoden, alles extrem erschreckend. Dieses Buch hätte nicht funktioniert, wenn Jason als Antagonist nicht so stark gewesen wäre. Es ist gut, ihn richtig hassen zu können.

Darcy wiederum hat meine große Bewunderung bekommen. Es ist schwierig, so eine Figur zu gestalten. Denn auf der einen Seite ist klar, dass Szenen passieren werden, wo wenig Verständnis vorhanden sein wird. Aber gleichzeitig und damit auf der anderen Seite hatte sie mich schnell am Haken, weil sie so mutig ist. Es gab auch immer wieder Momente, in denen man gemerkt hat, wie sie in Muster fiel und auch das war überzeugend. Nachdem Darcy sich einmal für sich entschieden hat, gab es dennoch Rückfälle und das war so realistisch. Das echte Leben, aber auch genug ähnliche Geschichten aus Serien und Filmen zeigen, wie echt Hotel es hier gelungen ist, diese Beziehung zu gestalten. Und weil es echt ist, kommt es auch so krass intensiv an. Letztlich haben wir auch Hoffnungsschimmer in dieser Geschichte und das ist für mich vor allem Ellis als Gegengewicht zu Jason. Es war einfach so gut, dass er so anders war. Es war leicht, diese zwei Seiten zu sehen und so auch aufgezeigt bekommen, wie unterschiedlich man als Partner sein kann. Gleichzeitig fand ich es auch wichtig, dass Darcys spätere Freundschaften so viel Raum eingenommen haben. Blake werden wir in Band 2 ohnehin nochmal intensiver kennenlernen. Aber auch insgesamt fand ich es gut, dass Ellis nur eine Figur von mehreren ist und generell der Wert eines wichtigen sozialen Netzwerks um einen herum betont wurden. Ich kann hier wirklich an nichts meckern. Ich bin durchgerast mit Hören und war absolut mitgenommen, in jeder Sekunde.

Fazit: Nikola Hotel hat jetzt erst relativ spät eine Chance von mir erhalten, aber besser spät als nie, denn „Lost Girls – Breathing for the first Time“ war eine echte Entdeckung. Das Thema ist gewagt und wenn man einmal den Sprung ins kalte Wasser wagt, dann muss man es auch konsequent durchziehen und das hat Hotel für mich gemacht. Häusliche Gewalt ist hier der Hauptprotagonist und man muss das für sich natürlich abwägen, aber wenn man sich darauf einlässt, dann ist das ganze Thema extrem genial und intensiv aufgemacht. Hut ab vor dieser Leistung!