Endlich mal wieder ein Buch mit doppeltem Boden

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sonnenwind Avatar

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Lucy - der Name transportiert eine Bedeutung, vor allem in diesem Zusammenhang. Doch wir finden hier keine Verbindung in die Frühzeit. Im Gegenteil: Lucy ist die Zukunft!

Ihr Vater ist ein Primatenforscher, der auf seine Weise versucht, der Degeneration der Menschheit etwas entgegenzusetzen. Indem er Erbmaterial von Bonobos (Zwergaffen) mit seinem eigenen verschmilzt, erschafft er eine neue Menschenrasse. Die ethischen Probleme werden ihm erst später klar, als Lucy heranwächst, und er bereut, was er getan hat. Aber nun ist es zu spät.

Bei einem Rebellenüberfall auf seine Forschungsstation im Kongo kommt er ums Leben, und Lucy bleibt allein zurück. In dieser Situation wird sie von einer amerikanischen Primatenforscherin gerettet und in die Zivilisation mitgenommen. Wie sich herausstellt, hat ihr Vater sie ausgezeichnet vorbereitet. Sie hat nicht nur das Wissen, auf der Stelle das College zu besuchen, sie hat auch die ausgeprägten Sinne der Bonobos geerbt. Sie spürt die unterschwelligen Signale, die auch Menschen ständig aussenden, und weiß daher, wie sie sich in der entsprechenden Situation verhalten muß.

Ihre Beurteilung des zivilisierten menschlichen Lebens ist so treffend, daß man sich beim Lesen regelrecht ertappt fühlt. Hervorragend herausgearbeitet ist das Miteinander, Status und Rollenspiele. Laurence Gozales benutzt die Protagonistin aus dem Urwald, um uns Heutigen einen Spiegel vorzuhalten. In ihrer Welt gibt es klare Regeln, nach denen sich alle Tiere verhalten. Dieselben Regeln gibt es auch in der Zivilisation, nur klappt hier die Kommunikation nicht mehr. Und deswegen geschehen unter Menschen Dinge, die unter Tieren undenkbar wären.

Alles scheint geregelt - bis ihre Besonderheit in die Öffentlichkeit kommt. Obwohl sie eindeutig ein Opfer ist, wird sie von allen Seiten verfolgt und soll mit den üblichen brutalen Methoden "untersucht" werden. Hier zeigt sich die zweite Ebene des Romans: Wir werfen einen erschreckenden Blick in das Innere des Menschen. Alles, was "anders" ist, muß beseitigt werden. Lucy ist "anders", deshalb wird ihr ihre Menschlichkeit abgesprochen. Obwohl sie hochintelligent ist, die klassischen Dichter auswendig zitieren kann, einen Highschool-Abschluß hat und nicht nur so aussieht, sondern sich auch verhält wie ein Mensch - wegen der nicht von ihr zu verantwortenden Affen-Erbanlagen wird sie als Tier klassifiziert.

Die Beschreibung der menschlichen Art geht unter die Haut. Leider hat der Autor hier den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Mensch ist genauso, wie er ihn beschreibt. Aber es gibt auch andere. Solche, die noch selber denken und Lucy helfen, so gut es geht. Trotzdem ist sie in letzter Konsequenz auf sich selbst angewiesen.

"Lucy" ist weniger ein Action-Roman als vielmehr ein tiefgründiges Werk, das anhand einer der Science-Fiction nahekommenden Welt in einer SF-typischen Art den Finger in die Wunden der gegenwärtigen Gesellschaft legt. Die Handlung ist so spannend und fesselnd, daß man das Buch nur mit größtem Widerwillen weglegt, wenn es absolut nicht mehr anders geht. Die Personen und ihr Schicksal sind ohne großes Gerede deutlich gezeichnet und wachsen dem Leser ans Herz.

Für dieses Buch würde ich zu gern volle fünf Sterne geben - was ich eigentlich so gut wie nie mache, denn Vollkommenheit liegt auch nicht in der menschlichen Natur. Das einzige Manko, das ich hier gefunden habe, ist die Bezeichnung "Christ" für Menschen, die christliche Maßstäbe für gut erachten und sich an christlichen Dogmen orientieren. Das sind in aller Regel gute Maßstäbe, aber sie machen keinen Christen aus. Ein Christ ist nicht jemand, der christliche oder moralische Prinzipien für wahr hält. Ein Christ ist jemand, der seinem Herrn, der alles für die Sünden der Menschen am Kreuz auf Golgatha gegeben hat, gleich werden möchte. Und Jesus hätte nie einen Menschen für etwas verurteilt, was er nicht zu verantworten hat. Deshalb ist es kurzsichtig und irreführend, den Mob mit den Bibelsprüchen als "Christen" zu bezeichnen. Ansonsten ist das Buch großartig und hat es verdient, weite Beachtung zu finden. Den Autor werde ich mir merken. Diese Art von Büchern sind ein Gewinn zu lesen!