Laurence Gonzales: Lucy

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hiclaire Avatar

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Das Buch hat nicht ganz gehalten, was ich mir nach der Leseprobe versprochen hatte.

Es beginnt absolut spannend, die atmosphärisch dichte Erzählweise fesselt, macht neugierig und zieht in den Bann. Als der Bürgerkrieg immer näher rückt muss die Anthropologin Jenny ihren Forschungsstützpunkt im kongolesischen Dschungel fluchtartig verlassen. Sie will einen ebenfalls forschenden englischen Kollegen warnen und findet in seiner Hütte Lucy, ein junges Mädchen, allein und augenscheinlich verwaist. Sie nimmt Lucy mit, zunächst nach England und dann in die USA.

Obwohl nicht sofort explizit ausgesprochen, weiß der Leser doch ziemlich bald,  welches Geheimnis Lucy und ihre Abstammung umgibt und es dauert auch nicht allzu lange, bis  Jenny entdeckt, dass Lucy  Gene von Bonobos (Menschenaffen) in sich trägt. Wie es dazu kommen konnte, wird einigermaßen nachvollziehbar erklärt. Jenny liebt Lucy umso mehr und versucht sie zu beschützen und ihr ein normales Leben zu ermöglichen. 

Lucy ist fernab jeglicher Zivilisation aufgewachsen,  von ihrem Vater jedoch zu einem überaus gebildeten und intelligenten Mädchen erzogen worden, sehr belesen, aber ein bisschen altmodisch und ohne Kenntnis dessen, was heutzutage die Welt amerikanischer Teenager ausmacht. Ich fand es faszinierend zu lesen, wie sie mit ihren etwas anderen Instinkten auf diese moderne und technisierte Welt trifft. Mit ihren Augen die totale Reizüberflutung in unserer Gesellschaft zu erleben, lässt einmal mehr deren Absurdität erkennen. Natürlich gibt es allerhand Probleme, aber Lucy lebt sich ein, lernt ihre besonderen Fähigkeiten und Kräfte einigermaßen zu kontrollieren und findet eine Freundin, die zu ihr steht. Interessant auch, dass sie ganz genau über die Problematik ihrer Abstammung Bescheid weiß. Ihr Vater hat sie über die Gefahren, die auf sie zukommen können nicht im Unklaren gelassen.

Im Prinzip eine Ausgangssituation, die Spannung verspricht und jede Menge Potential bietet. Leider verflacht die Geschichte im weiteren Verlauf immer mehr. Gut bleiben die Passagen, die sich mit Lucy, ihrer Andersartigkeit, ihren Gefühlen und Wahrnehmungen beschäftigen,  die Rahmenhandlung drum herum wird zeitweise fade und langweilig, bekommt einen aufzählenden Charakter wie in einem zweitklassigen Schulaufsatz. Plötzlich überschlagen sich dann die Ereignisse,  alle möglichen Gruppierungen, von christlichen Fundamentalisten und bigotten Eiferer bis zu  skrupellose  Militärs und Politikern wenden sich gegen Lucy. Wie sich die Dinge dann weiterentwickelten war mir letztendlich zu reißerisch, zu viel und zu dick aufgetragen um noch wirklich nachvollziehbar zu wirken. Auch die immer einseitiger und klischeehafter werdende Ausgestaltung der Protagonisten trägt nicht dazu bei, das Buch glaubwürdiger und ernsthafter zu gestalten. Angesichts der Schlichtheit und Naivität  hatte ich irgendwann das Gefühl, eher ein Jugendbuch gelesen zu haben, u. a. sicher auch wegen der Rolle, die Facebook und Youtube spielen.

Inwieweit die Geschichte „wissenschaftlich fundiert“ ist, wie es im Klappentext heißt, vermag ich nicht zu beurteilen. Beim Lesen habe ich diesen Eindruck jedenfalls nicht wirklich gewonnen, dazu wurde über weite Strecken zu oberflächlich und klischeehaft mit dem Thema umgegangen.

Fazit

Es werden viele interessante gesellschaftskritische, moralische und ethische Aspekte angerissen, die leider im Verlauf der Geschichte unter einer zunehmend naiven Erzählweise und klischeehaften Handlung untergehen.