Von Häkelnadeln, Tiefseekraken und echter Freundschaft

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Anne Beckers "Luftmaschentage" ist ein wunderbar einfühlsam geschriebenes Kinderbuch an der Schwelle zum Jugendbuch, das auch auf Erwachsene ganz schön emotional Eindruck macht. Hinter dem bunten Cover, dass eher an ein Bilderbuch oder Vorlesebuch für jüngere Kinder erinnert, steckt eine wirklich starke, berührende Geschichte.
Es ist vor allem eine Geschichte über Freundschaft, aber auch eine Geschichte über Familie, soziale Ungleichheit, und die kleinen und großen Schwierigkeiten des jugendlichen Schulalltags, einschließlich Mobbing und erstem Verliebtsein.

Die Protagonistinnen Mats und Ricci sind zwei Mädchen, die nicht viel gemeinsam haben, außer dass sie beide von ihrer Umgebung als irgendwie seltsam und unangepasst empfunden werden, die sich aber gegenseitig in ihren Eigenheiten wenn nicht immer verstehen, so doch wenigstens akzeptieren und vor allem mögen.
Anne Becker ist ein sehr behutsamer Umgang damit gelungen, dass nicht alle Kinder aus einem glücklichen Zuhause kommen, oder, aus den verschiedensten Gründen, nicht einmal einen Ort haben, den sie Zuhause nennen würden.

Besonders beeindruckt war ich von der Beschreibung des Innenlebens der Charaktere, die riesige Krake Madame Schüchtern, die Mats daran hindert, mit den meisten Menschen zu sprechen, und die selbst in ihren Handlungen großartig unterhaltsam charakterisiert wird. Dieses innere Tier, das unser Verhalten auf eine Weise steuert, die wir selbst gar nicht so leicht beeinflussen können und die uns vielleicht sogar mit unseren Mitmenschen in Schwierigkeiten und Konflikte bringt, ist ein wirklich anschauliches Bild, und hat in unserer Familie zu einem sehr aufschlussreichen Gespräch geführt, welche Lebewesen denn in unseren Bäuchen auf ihrem gemütlichen Sofa rumlungern und wie es ihnen passt dazwischenfunken könnten.

Die zwei parallel laufenden, versetzten Erzähl- und Zeitstränge, vor und nach dem Streit von Mats und Ricci, erhalten die Spannung aufrecht und zeigen die emotionalen Auswirkungen der Freundschaft einerseits und des Konfliktes andererseits. Für mich als erwachsene Leserin fand ich diese Erzähltechnik sehr gelungen, ob sie den Lesegewohnheiten und -erfahrungen von Kindern entspricht, bin ich mir allerdings nicht ganz sicher; meine zwei Töchter (gerade 11 und fast 13) waren davon jedenfalls eher verwirrt.

Die Geschichte an sich hat uns sehr gut gefallen, wegen der sehr spannenden Handlung, den toll geschriebenen Charakteren (auch Nebenfiguren sind wirklich super und mehrdimensional charakterisiert) und dem Schreibstil, der gleichzeitig emotional sehr nachvollziehbar, berührend und doch auch zwischendurch immer wieder sehr lustig ist.
Eine große Empfehlung, denn es ist wirklich toll, wie viele wichtige Themen und Gedanken in diesem recht kurzen Buch stecken!