Der große Umzug

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Von Umzügen kann ich seit 2022 ein Lied singen, und es ist eine Arie, die von viel Anstrengung und Abschied erzählt, aber auch vom Staunen über eine fremde neue Welt. Nils Westerboer hat in seinem postapokalyptischen Roman "Lyneham" ebenfalls zum Thema Umzug gegriffen - und das in einem Maßstab, der fast das Menschliche übersteigt.

Die Menschheit hat die unbewohnbare Erde verlassen und sich auf den Weg zum Mond Perm gemacht, der den Planeten Windleite umkreist. Riesig hängt diese Kugel über dem Mond und beeinflusst ihn mit ihrer Schwerkraft - was dem Mond ein fragiles Gleichgewicht beschert. Dieses droht die Terraformung durch die ersten Ankömmlinge auf der sogenannten Impulsmission zu zerstören, und daher ist, als das Gros der Überlebenden eintrifft, nichts so, wie es sein sollte.

Der zwölfjährige Henry, eins der drei Kinder von Mildred, die als Wissenschaftlerin bei der Impulsmission mitgeflogen war, ist der Haupterzähler des Buchs, während seine Mutter immer wieder in Zwischenkapiteln zu Wort kommt. Eine scheinbar schlichte Konstruktion, die jedoch mit der Zeit (!) die ungeheuerlichsten Fakten offenbart. Mildred, das wird schnell klar, geht mit der Führung der Impulsmission nicht konform und beginnt bald, gegen sie zu arbeiten; lange ist man sich unsicher, wer hier wirklich die Bösen und die Guten sind - zumal Mildred zwar an den Schutz ihrer Kinder denkt, doch schon immer eine bis ins Extrem distanzierte Mutter war und bleibt. Mir gefällt das - bei allem Schmerz für die Kinder, der aus solchen Verhältnissen entsteht - sehr gut, weil es ungewöhnlich ist und mal das Übliche auf den Kopf stellt (der Vater Charles war derjenige mit dem Kinderwunsch), und fast noch besser gefällt mir die wunderbare Art des Autors, Charaktere zu zeichnen. Wer sich fies verhält, muss es nicht unbedingt sein, wer grundsätzlich gut ist, kann schlimme Dinge tun.

Das Spiel mit Widersprüchen spiegelt sich in sehr vielen Aspekten des Romans, und ebenso bestürzend wie faszinierend fasst es Mildred zusammen: "Berührung ist, physikalisch gesehen, eine Illusion. Wenn sich Körper einander nähern, stoßen sich die elektrischen Felder der Oberflächenmoleküle gegenseitig ab. Was wir empfinden, ist nicht Nähe, nicht Verbindung, sondern, eigentlich, Widerstand." Über so was kann man dann schon mal länger nachdenken.

Dieser Roman tut weh; schon allein die oft erwähnte Formulierung "als der Weltraum kam" (für den Prozess, der auf der Erde stattfand) lässt alle schmerzvoll erschauern, die ihre blau behimmelte Welt lieben. Doch dieser Roman lässt in kleinen Ecken auch immer wieder Witz aufblitzen, z.B. wenn Frau Strom (ein intelligenter Großbohrer, der für die Kinder der Ankommenden als Lehrerin einspringt) sich abschalten muss, weil keine Maschine über Gott sprechen kann.

Ganz nebenbei zeigt Westerboer in "Lyneham", wie anthropozentrisch ein Großteil der Menschheit über das Weltall denkt - dafür würde ich ihm am liebsten einen Extrastern geben. Daher empfiehlt die Buchprüferin allen, die auf meisterliche SF stehen, aus ungewöhnlichen Weltentwürfen gerne auch mal ganz konkret Inspiration fürs eigene Leben schöpfen und Spaß an soziologischen Versuchsanordnungen haben: Unbedingt lesen!