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Eine von zehn Frauen in Norwegen wird im Laufe ihres Lebens vergewaltigt. Liv, die Protagonistin in Heidi Furres Roman "Macht", ist diese große Eins in der Zehn. Die eine von zehn Frauen in der Umkleide des Fitnessstudios, die eine von zehn Frauen in der Reihenhauszeile, die eine von zehn Frauen auf dem Elternabend. Livs Vergewaltigung liegt zum Zeitpunkt der Geschichte 15 Jahre zurück. Sie lebt mittlerweile das wohlsituierte Leben einer verheirateten Mutter von zwei kleinen Kindern. Der Ehemann arbeitet im Managementbereich, sie selbst ist Pflegerin und verrichtet sowohl beruflich als auch zuhause Care-Arbeit. Nach außen hin hat sie ihr Leben im Griff. Sie kümmert sich um die Belange der Familie, geht gewissenhaft ihrem Job nach, macht viel Sport und achtet stets darauf, gepflegt auszusehen und gut gekleidet zu sein. Doch in ihrem Inneren sieht es anders aus.
Liv hat nach wie vor mit den Nachwirkungen ihrer Vergewaltigung zu kämpfen. Ihre Gedanken kreisen täglich und nächtlich um das Ereignis. Sie versucht seit Jahren verzweifelt die Macht über ihren Körper und ihr Leben zurückzuerlangen. Indem sie sich beim Sport verausgabt, ihr Äußeres mit teuren Kleidern und Kosmetikartikeln schmückt und formt, sich verzweifelt an das Idealbild einer heteronormativen Familie klammert. Doch immer begleitet und verfolgt sie der Moment, in dem sie die Macht verloren zu haben scheint. Alltägliche Situationen können Krisen auslösen, sie ist eine Hülle, wirkt in der Innenansicht passiv und gefühlsgedämpft, aber gleichzeitig auch mutig und stark, während sie mit sich kämpft und versucht, das Geschehene in ihrem Bewusstsein zurückzudrängen.
Die Autorin beschreibt in kurzen prägnanten Paragraphen das Leben ihrer Protagonistin. Diese Form hat mir sehr zugesagt. Es gibt weder Kapitel noch eine klare Struktur. Die Absätze wirken eher wie Splitter oder Scherben eines Tages oder einer Situation. In ihnen geht es nicht nur um sexuelle Gewalt an Frauen, sondern auch um Ausbeutung und das weibliche Rollenbild. Es werden immer wieder Bezüge zu Kunst und Kultur, sowie zu gesellschaftlichen Kontroversen, genommen. Die #metoo-Debatte wird beleuchtet, aber auch Medienwerke, wie z.B. der Film "Thelma & Louise" oder der Roman "Die Wand" werden thematisiert. Manchmal durchbricht Liv sogar die Trennlinie und spricht die Lesenden direkt an. Das hat mir gut gefallen.
Nichtsdestotrotz ist es nicht leicht in Livs Kopf zu sein. Die Vergewaltigung prägt sie maßgeblich, sie kreist in Gedanken quasi ständig um dieses Ereignis. Tatsächlich bietet das Buch wenig entlastendes Gegengewicht zu diesem Thema. Positiv wahrgenommen habe ich allerdings Livs Wahrnehmung von anderen Frauen, die ich als schwesterlich und emphatisch wahrgenommen habe. Ihr Trauma geht jedoch so weit, dass sie glaubt, in den Gesichtern jener Frauen erkennen zu können, ob diese vergewaltigt worden sind.

"Macht" von Heidi Furre ist sicherlich keine leichte Kost. Es ist ein schweres, bedrückendes Buch, das eine schwere und bedrückende Wahrheit über unsere Gesellschaften erzählt. Die Geschichte spielt in Norwegen und könnte doch überall verortet sein. Ich bin ein großer Fan davon, dass solche Geschichten und Schicksale in der Literatur aufgearbeitet werden. Dass erzählt wird, wie es ist oder wie es sein kann, eine Frau zu sein. Dass von schönen Dingen und schönen Menschen erzählt wird, ohne dass es dabei eine schöne Geschichte zu hören gibt. "Macht" gelingt dies in einer Vielschichtigkeit und mit einem Nachhall, den man auf so wenigen Seiten kaum erwarten kann.

An dieser Stelle auch ein großes Lob an den Dumont-Verlag für die herausragend schöne optische wie haptische Gestaltung dieses Buchs. Beginnend beim Schutzumschlag bis hin zu den Schwerz-Weiß-Drucken auf den Innenklappen merkt man wie viel Liebe und Gedanken in diesen Roman geflossen sind. "Macht" ist wirklich ein Buchschatz. Trotz und wegen der Thematik.