Die Macht über den eigenen Körper, Gedanken und Leben zurückgewinnen

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luisabella Avatar

Von

»MACHT« von Heidi Furre, 🇳🇴 übersetzt von Karoline Hippe
[TW: Vergewaltigung; Depression; Medikamtensucht]

»Früher hielt ich mich für einen guten Menschen. Jetzt glaube ich, ich bin nicht besser, als ich sein muss. Dass ich, wenn es um Leben oder Tod ginge, entweder wie angewurzelt dastehen oder kämpfen würde. Bei jeder Bedrohung sinke ich tiefer in meine schlimmsten Abgründe. Deshalb muss ich den Bedrohungen immer einen Schritt voraus sein.« (S.39)

Liv ist die Protagonistin und Ich-Erzählerin des Romans »MACHT« von der norwegischen Fotografin und Autorin Heidi Furre. In ihrem Roman schreibt die Autorin über das Weiterleben nach einer Vergewaltigung, über den Willen und Weg, die Macht über sein Leben, Gedanken und Ängste zurückzugewinnen.

Liv, Anfang 30, lebt mit ihrem Mann Terje und ihren beiden kleinen Kindern Johannes und Rosa in einem Einfamilienhaus in Oslo und arbeitet als Pflegerin. Eine traumatisierende Vergewaltigung vor 15 Jahren prägt ihr scheinbar perfektes Leben: So ist der Gang zur Zahnärztin eine Herausforderung, ein Haus am Wald ist kann kein Zuhause werden, und auch Schlaf und Ruhe findet sie ohne Medikamente nicht mehr. Äußerlich bemüht Liv sich sehr, den Schein zu wahren und eine gute Frau, Pflegerin und Mutter zu sein. Ihrem Mann hat sie nichts von ihrer Vergewaltigung erzählt:

»Es gibt einen Raum, den ich nie geöffnet habe. Nein, es ist kein Raum, es ist ein Wald. Wenn es so große Teile von mir gibt, die Terje noch nie gesehen hat, gibt es dann auch solche Weiten in ihm? Was in den Tiefen des anderen existiert, ist unerreichbar. Der Gedanke ist zunächst erschreckend, aber er verschafft auch Respekt, ein Bewusstsein dafür, den anderen nie vollständig besitzen zu können. Ich gönne ihm das, was auch immer er zu verbergen hat, genauso, wie ich es mir gönne.« (S.60)

Als Leser:in erleben wir Liv’s Gedankenwelt, in der sehr deutlich wird, wie sehr dieses traumatische Erlebnis nicht nur ihre Gedanken selbst bestimmt, sondern ebenso ihre Angewohnheiten und Lebensentscheidungen beeinflusst. Wir erleben aber auch eine starke Frau, die ihr Leben wieder selbstbestimmt führen will. Im Roman entdeckt Liv die französische Künstlerin Niki de Saint Phalle, die ihre Vergewaltigung nicht nur öffentlich thematisiert, sondern auch künstlerisch verarbeitet hat. Dies ist keine fiktive Romanfigur, sondern eine reale Person, von der zwei Fotos (1961) in der inneren Umschlagsgestaltung genutzt worden sind.

Ein wichtiges Buch, das den Fokus auf die Zurückgewinnung der Macht über sich selbst nach einer Vergewaltigung legt und dabei aufzeigt, wie traumatisch dies sein kann.

Die Autorin hat bereits 4 Romane veröffentlicht, die aber bislang nicht ins Deutsche übersetzt worden sind. Die lakonische, präzise und nüchterne Sprache unterstreicht die Thematik des Romans sehr gut und lässt einen das Buch quasi nicht mehr aus den Händen legen.

Große Leseempfehlung [TW*] für diesen mächtigen Roman. 



[*TW: Vergewaltigung; Depression; Medikamtensucht]