Ein Buch für mehr Sichtbarkeit

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Der erste ins Deutsche übersetzte Roman der norwegischen Autorin Heidi Furre ist zwar ein kurzes, dafür aber sehr eindringliches Werk. Sie schreibt von Pflegerin Liv, die auf den ersten Blick ein "normales" Leben mit Job, Haus, Mann und Kindern führt. Dass sie in ihrer Studienzeit vergewaltigt wurde und auch Jahre später mit den Nachwirkungen zu kämpfen hat, versucht Liv nicht nur vor ihrem Umfeld, sondern auch vor sich selbst zu verstecken.

Dass dieses Thema keine leichte Kost wird, merkt man schon auf den ersten Seiten. Es gibt keine richtigen Kapitel, das Buch ist eher eine Ansammlung aus alltäglichen Momenten und Situationen. Die Protagonistin Liv beschreibt ganz eindrücklich wie allgegenwärtig die Tat in ihr nachwirkt. Überall lauern Erinnerungen, Gefahren, Gedanken, mögliche Betroffene, Überlebende sowie Täter. Liv kann keinen Schritt mehr gehen ohne an die furchtbare Tat zu denken. Mal analysiert sie mehr sich selbst beziehungsweise ihr früheres Ich und mal mehr den Täter, wobei sie immer wieder zwischen Verständnis, Wut, Schuldzuweisungen, Verharmlosung und Hoffnung schwankt. Jedes dieser kurzen Kapitel und Abschnitte hat auf mich sehr beklemmend, aber auch sehr authentisch gewirkt.

"Manchmal ist es schlimmer zu sagen, ich bin vergewaltigt worden, als tatsächlich vergewaltigt worden zu werden. Als würde man eine Todesnachricht überbringen. Man muss dabei zusehen, wie die anderen mit Abscheu reagieren. Für sie ist die Abscheu nur ein vorübergehendes Gefühl, etwas, das sie ablegen können. Aber in mir hat sie einen festen Platz, wie ein inneres Organ." (S. 135)

Im Roman "Macht" kommt auch zur Sprache wie die Gesellschaft im Allgemeinen mit Vergewaltigungen umgeht. Zum Beispiel, ob es nun Opfer oder Überlende/r heißt, oder die immer wieder auftretenden Skandale um Schauspieler, Musiker, Patriachen, die aber nach wenigen Wochen wieder in der Versenkung verschwinden. Ich fand es spannend und auch realistisch, solche Aspekte aus Sicht einer Betroffenen zu lesen. Liv wirkt so authentisch, dass ich manchmal vergessen habe, dass es sich hier um ein fiktionales Werk handelt.

Denn auch gewisse Zwänge und Verhaltensmuster, die die Protagonistin entwickelt hat, haben mich sehr getroffen und wirkten gleichzeitig schlüssig. Sehr eindrücklich waren Livs Gedanken über ihre beiden Kinder und wie sie einerseits mit Erstaunen und Stolz dabei zusieht, wie sie aufwachsen und (noch) Vertrauen in die Menschheit haben, andererseits mit Sorge und Wut darauf blickt.

Heidi Furre hat mit "Macht" ein ganz wichtiges und eindringliches Buch geschrieben. Es war stellenweise schwer zu lesen, aber gleichzeitig finde ich die Sichtbarkeit absolut notwendig und bin dankbar für diesen Roman. An dieser Stelle auch ein Dankeschön an Vorablesen und den DuMont Verlag!