Ein machtvoller Roman

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Liv lebt mir ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern in einem Haus in Oslo und arbeitet in einem Alterspflegeheim. Von außen betrachtet scheint sie ein Bilderbuchleben zu führen; niemand sieht, mit welchen inneren Dämonen sie tagtäglich zu kämpfen hat. Als Studentin wurde Liv vergewaltigt und diese Tat hat bis heute immensen Einfluss auf ihr Leben. Sie versucht verzweifelt, ihren inneren Kampf mit der Wahrung eines geordneten Äußeren zu überdecken und verliert sich zuweilen im Konsum: sie kauft teure Kleider, Shopping scheint zu ihren bevorzugten Kompensationsmechanismen zu gehören, sie lässt sich Botox spritzen. Da ihr Alltagsleben von Angst und Panik geprägt ist, sind Schmerz- und Beruhigungsmittel ihre täglichen Begleiter. Hier kommt ihr auch ihr Job als Pflegerin sehr gelegen, denn in diesem Umfeld hat sie uneingeschränkt Zugriff auf jegliche Medikamente, was ihr Sicherheit gibt. Eine Wendung nimmt Livs Leben, als sie sich mit der Künstlerin Niki de Saint Phalle zu beschäftigen beginnt. Die Tatsache, dass diese dreiundfünfzig Jahre über eine Vergewaltigung geschwiegen und erst nach dieser langen Zeit davon erzählt hat, lässt sie nach und nach selbst in einen Prozess der Verarbeitung eintreten und zu einem Befreiungsschlag ausholen.
Dieser schmale Roman hat mich wirklich gepackt und mitgerissen, ich habe ihn praktisch in einem Rutsch gelesen. Die Autorin versteht es sehr gut, die Zerrissenheit und die innere Not der Protagonistin darzustellen. Auch die verschiedenen Ausdrucksarten von Macht werden sehr gut eingearbeitet: die Macht der Frau über den Mann, die Macht des Mannes über die Frau, die Macht der Eltern über die Kinder, die Macht der Dinge, des Konsums. Erschütternd fand ich Livs eigene Machtlosigkeit, denn sie hat die Vergewaltigung letztendlich nie angezeigt, da sie meinte, dass sie letztendlich nicht genügend Beweise habe.
Bei diesem Roman ist die Covergestaltung außergewöhnlich gut gelungen. Aus der Entfernung gesehen denkt man auf Grund der Farbe an einen Feel-Good-Roman, aber bei genauerem Hinsehen erkennt man die Scherben, was nochmal schön die Thematik des Romans aufgreift. Auch die Abbildungen von Niki de Saint Phalle im Vor- und Nachsatz finde ich sehr passend.
Mein einziger Kritikpunkt ist, dass die Nebenfiguren im Roman sehr blass bleiben. Dies ist vielleicht auch etwas der neutralen Sprache geschuldet, aber letztendlich blieben mir Livs Ehemann, ihre Kinder und ihre Freundin Frances seltsam fremd. Zudem fand ich die Form manchmal irritierend, denn es hat doch ab und zu verhältnismäßig große Absätze im Text.
Ein sehr lesenswerter, packender Roman, der unter die Haut geht.