Eindrücklich und wichtig

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luna80 Avatar

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TW: Vergewaltigung, sexuelle Gewalt

„Ich weiß nicht, wo die Gewalt bleibt, wenn sie verübt worden ist. Sickert sie in die Matratze? […] Wenn sie wie Säure ist, ätzt sie sich durch die Matratze, durchs Parkett, in den Waldboden. Dringt in Hirn und Muskeln. Wird hässlich, zieht hässliche Furchen ins Gesicht.“

Liv, ihr Mann, Terje, und ihre beiden Kinder, Rosa und Johannes, leben in Oslo. Sie arbeitet als Pflegerin in einem Altenheim. Von außen scheint es die perfekte Szenerie. Doch im Inneren von Liv brodelt es, unaufhaltsam, leise, dann wieder laut. Vor rund 15 Jahren wurde sie vergewaltigt. Seitdem ist für sie nichts mehr wie es war. Jeder Weg könnte Unheil bringen, jeder Frau könnte es auch geschehen sein. Nachts am Heimweg telefoniert sie immer mit ihrem Mann. Nur ihre Freundin, Frances, weiß Bescheid, nicht ihr Mann Terje. Mit Einzug einer neuen Patientin fängt Liv’s Fass langsam an überzulaufen. Denn mit der Patientin kommt auch deren Bruder, ein bekannter Schauspieler, der vor Jahren wegen Vergewaltigung angeklagt, aber freigesprochen wurde. Und so stülpt sich der innere Orkan langsam nach außen.

„Mein ganzes Leben lang habe ich gedacht, ich sei frei und souverän. Bis ich kapierte, dass das nicht so stimmt. Dass solche Dinge jedem und jederzeit passieren können. Das ist es, was mich so beschäftigt. Nicht der Vorfall an sich, sondern der Terror seiner Existenz.“

Heidi Furre hat eine starke Protagonistin geschaffen. Denn auch wenn Liv vergewaltigt wurde, als Opfer sieht sie sich nicht. Empfindet sogar Ekel für Frauen, die in der Opferrolle verharren, sich die Macht über ihr Leben und Tun nehmen lassen. Liv nennt es „den Vorfall“, nicht Vergewaltigung. Mit der Geburt ihrer Kinder bahnte sich der Vorfall wieder in ihre Gedanken.
Wie ein Adler kreisen die Gedanken um die Frage, ob sie Schuld hat? Ob sie nicht laut genug „Nein“ sagte? Hätte sie einfach nicht mit dem Typen mitgehen sollen? Was es vielleicht doch „nur nicht ganz einvernehmlich“?

„Denkt er darüber nach? Jetzt, in diesem Moment, denkt er darüber nach, was er hätte anders machen können? Kennt er meinen Namen noch? Wie funktioniert das körperliche Gedächtnis bei demjenigen, der vergewaltigt hat?“


Mit leiser, aber schlagkräftiger Power schafft es die Autorin das Innere der Protagonistin zu zeichnen. Wie sie mit dem Vorfall hadert, mit ihrem Tun, wie Überlegungen und Gedanken sich permanent in ihren Alltag, ihr Denken und Handeln schleichen. Wie sie mit der sexuellen Gewalt, die ihr widerfahren ist, umgeht; sich bemüht die Hoheit über ihr Leben zurückgewinnen.
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Beim Lesen stellte ich mir immer die Frage, wer hier die „Macht“ über wen hat: hat „der Vorfall“ Liv im Griff oder hat Liv das Trauma bei den Eiern? Ihre Verbissenheit nach außen stark zu sein, tat mir im Herzen weh, denn natürlich ist man als Außenstehende oft der Meinung, dass „man darüber reden muss“. Ist es so? Hilft reden wirklich jedem Menschen? Benötigen manche Menschen nicht einfach nur ihren intrinsischen Umgang damit ohne mit reden wieder Wunden aufzureißen? Wenn man über etwas redet bekommt es eine gewisse „Hülle“, eine Art von „Daseinsberechtigung“, ein Ding, um dass man sich „kümmern“ muss.
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Furre hat ein eindrückliches Buch geschrieben, dass nicht kalt lässt. Die Geschichte ist literarisch genial geschrieben; der Schreibstil absolut passend, zu der eindrücklichen Traurigkeit, die das Thema beinhaltet. Mit einer Kühlheit im Schreibstil ist es kaum möglich eine „Verbindung“ zu Liv aufzubauen und das fand ich hier absolut passend und gewieft. Eine beeindruckende Geschichte über das „Weiterleben nach einer Gewalterfahrung“, die schwer verdaulich, dennoch extrem wichtig ist! #leseempfehlung