Schmerzhaft, aber ein großartiges Werk!

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Macht von Heidi Furre

"..., die Erinnerung an den Zwang wacht immer im Hintergrund (S.55)."

Triggerwarnung: Vergewaltigung

Autsch, diese Buch geht an die Nieren. Trifft mitten ins Herz. Tut richtig weh! So gut ist es geschrieben, so sehr konnte ich mich einfühlen, in Livs Trauma, das immer und immer wieder auftaucht - diese nie verarbeitete Vergewaltigung in Jugendjahren.

Liv, Mitte Dreißig, hat sich mit ihren Ängsten und verschiedenen Coping Strategien ein scheinbar glückliches Leben aufgebaut, sie
wohnt mit ihrer Familie in einem gemütlichen Reihenhaus und auch ihr Job als Pflegerin gefällt ihr, bis eines Tages eine neue Patientin in das Pflegeheim einzieht, deren Bruder, ein berühmter Schauspieler ist, der vor Jahren der Vergewaltigung beschuldigt und in einem Prozeß aber freigesprochen wurde.
Liv wehrt sich mit aller Macht gegen das Aufreißen der alten Wunde, gegen Flashbacks, versucht das traumatische Ereignis zu vergessen, doch es kommt immer wieder an die Oberfläche, beim Zahnarzt, auf dem Nachhauseweg, im Wald ...
Die Autorin Heide Furre zeigt, wie Liv
gegen das Schamgefühl kämpft, gegen den Ekel, die auftauchenden Ängste und die Erinnerungen an die Rangelei mit dem Täter, wieviel Lebenskraft sie braucht, um im Alltag zu funktionieren.
Deutlich wird, was für eine zerstörerische Kraft das Erlebte nach Jahrzehnten noch hat und was für verheerende Konsequenzen es hat, den freien Willen eines Menschen zu brechen.

Die seelischen Qualen der Hauptfigur fühle ich als Lesende mit. Und doch kommt der Roman ohne Anschuldigungen aus, es geht Furre nicht darum, den Täter als soziopathisches Monster darzustellen, sondern vielmehr darum, wie Liv mit so einem Trauma überleben kann.
In meinen Augen ist der Roman ein großartiges literarisches Werk, ein eindringliches Buch. Mitreißend, fesselnd, furchterregend auch.
Auch wenn es da nicht explizit steht, so schien es mir (oder vielleicht möchte ich es auch nur glauben), dass Liv schließlich Trost findet, in der Kunst von Niki de Saint-Phalles, die ein ähnliches Schicksal erlitten hat, erst mit 64 Jahren in ihrem Buch "Mon secret" offenbarte, in Jugendtagen vergewaltigt worden zu sein.

Obwohl es so ein schmaler Band ist, habe ich richtig lange gebraucht, es zu lesen. in jedem Satz steckt sovieles, dem es nachzuspüren galt und auch danach braucht ich einige Zeit, es wirken zu lassen. Ein schmerzhaftes Buch!
Leseempfehlung für Menschen, die sich dem Thema gewappnet fühlen.