Überleben oder Leben?

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Liv lebt ein beschauliches Leben mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Oslo.
Alles scheint perfekt, wären da nicht ihre Ängste und Erinnerungen an eine Tat, die sie immer wieder einholen und ihr gewisse Handlungsweisen aufzwingen.
Vor Jahren wurde sie vergewaltigt, schweigt beharrlich, versucht das Geschehene zu vergessen und zu verdrängen, bis sich durch die Ankunft einer neuen Patientin, in dem Pflegeheim, in dem sie arbeitet, die Bilder und Eindrücke wieder aufdrängen.
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Heidi Furres Buch ist intensiv. Es schildert eindrücklich das Leben nach dem Erleben von sexueller Gewalt.

„𝘕𝘪𝘦𝘮𝘢𝘯𝘥 𝘣𝘭𝘦𝘪𝘣𝘵 𝘯𝘢𝘤𝘩 𝘦𝘪𝘯𝘦𝘳 𝘝𝘦𝘳𝘨𝘦𝘸𝘢𝘭𝘵𝘪𝘨𝘶𝘯𝘨 𝘭𝘪𝘦𝘨𝘦𝘯. 𝘕𝘪𝘦𝘮𝘢𝘯𝘥. 𝘈𝘭𝘭𝘦 𝘴𝘵𝘦𝘩𝘦𝘯 𝘢𝘶𝘧. 𝘕𝘪𝘦𝘮𝘢𝘯𝘥 𝘩𝘰̈𝘳𝘵 𝘥𝘢𝘯𝘢𝘤𝘩 𝘢𝘶𝘧, 𝘔𝘦𝘯𝘴𝘤𝘩 𝘻𝘶 𝘴𝘦𝘪𝘯.“ (𝘚. 88)

Und doch geht man als Mensch verändert aus einer solchen Tat heraus. Genau darum geht es in dem Erzählten. Es steht nicht die Tat, sondern das Erleben, das Weitermachen, der Versuch der Verdrängung und Verarbeitung im Vordergrund.
Furre zeigt auf, dass Verdrängung nicht funktioniert, zumindest nicht auf Dauer. Sie thematisiert viele Gefühle die Überlebende durchmachen. Scham, Selbstzweifel, Wut, Ekel sind nur ein paar Emotionen, die auftreten. Aber auch Gedankengänge, allen voran die Auseinandersetzungen bzgl. der Kinder, fand ich sehr eingängig. Die Frage, wie man einen Sohn erzieht, damit er nicht zum Täter wird… Die Frage, was man tun kann, um seine Tochter zu schützen…
Ohnmacht spielt eine große Rolle, die nüchterne Feststellung, dass man nirgends sicher ist, dass es jede Frau treffen kann.

„𝘋𝘢𝘴𝘴 𝘪𝘤𝘩 𝘯𝘪𝘤𝘩𝘵 𝘥𝘪𝘦 𝘌𝘪𝘯𝘻𝘪𝘨𝘦 𝘣𝘪𝘯. 𝘋𝘢𝘴𝘴 𝘦𝘴 𝘯𝘪𝘤𝘩𝘵 𝘮𝘰̈𝘨𝘭𝘪𝘤𝘩 𝘪𝘴𝘵, 𝘴𝘪𝘤𝘩 𝘢𝘯 𝘖𝘳𝘵𝘦𝘯 𝘢𝘶𝘧𝘻𝘶𝘩𝘢𝘭𝘵𝘦𝘯, 𝘢𝘯 𝘥𝘦𝘯𝘦𝘯 𝘦𝘪𝘯𝘦𝘮 𝘯𝘪𝘤𝘩𝘵𝘴 𝘱𝘢𝘴𝘴𝘪𝘦𝘳𝘦𝘯 𝘬𝘢𝘯𝘯.“ (𝘚. 7)

Liv, als Protagonistin, ist mir ein wenig fremd geblieben. Sie verfällt regelrecht in einen Kauf- und Schönheitswahn, um das Geschehene zu kompensieren. Ein Verhalten, dass ich zwar in Verbindung mit den Ereignissen durchaus nachvollziehen kann, welches mir persönlich aber absolut fremd ist.

„𝘋𝘢𝘴 𝘪𝘴𝘵 𝘦𝘪𝘯 𝘝𝘦𝘳𝘴𝘶𝘤𝘩, 𝘒𝘰𝘯𝘵𝘳𝘰𝘭𝘭𝘦 𝘻𝘶 𝘶̈𝘣𝘦𝘳𝘯𝘦𝘩𝘮𝘦𝘯. 𝘋𝘢𝘴 𝘌𝘬𝘭𝘪𝘨𝘦 𝘷𝘰𝘯 𝘮𝘪𝘳 𝘧𝘦𝘳𝘯𝘻𝘶𝘩𝘢𝘭𝘵𝘦𝘯, 𝘪𝘴𝘵 𝘯𝘪𝘦 𝘦𝘯𝘥𝘦𝘯 𝘸𝘰𝘭𝘭𝘦𝘯𝘥𝘦 𝘊𝘢𝘳𝘦-𝘈𝘳𝘣𝘦𝘪𝘵.“ (𝘚. 24)

Damit wird klar, dass die Tat nie wirklich weg ist. Es zeigt sich in Kleinigkeiten, wie dem Telefonat mit dem Ehemann, wenn sie auf dem Nachhauseweg ist und in großen Dingen, wie der Wahl der Lage des Hauses (kurzer Weg zu Bushaltestelle, kein Wald). Es dringt ins Leben ein… ein In-Schach-halten erfordert permanente Anstrengung.
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Das Buch ist ein Befreiungsschlag, es ist ein Appell dafür, das Schweigen zu brechen, es ist die Aufforderung, die Augen zu öffnen.
Mit der, in weiten Teilen fast sachlichen Schreibweise, lässt sich die Geschichte gut lesen und schafft genug Abstand, damit man nicht daran zerbricht.
Von mir gibts eine große Empfehlung für diesen Roman.