Von der Rückgewinnung der Macht über den eigenen Körper

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Liv ist eine von zehn. Eine von zehn Personen in Norwegen, die statistisch gesehen einmal in ihrem Leben vergewaltigt wird. Welche Auswirkungen eine Vergewaltigung auf das Leben „danach“ haben kann, zeigt Heidi Furre in „Macht“ eindringlich auf.

Liv, die Ich-Erzählerin, die in ihrer Studienzeit vergewaltigt wurde, bezeichnet sich selbst als Überlebende. Sie möchte kein „typisches Opfer“ sein, reißt sich zusammen, gibt sich größte Mühe, den Tag vor 15 Jahren zu verdrängen und scheint äußerlich alles im Griff zu haben. Sie hat zwei Kinder, einen Mann, ein Haus und einen Job als Pflegerin. Doch bei genauerem Hinsehen zeigen sich selbst in den simpelsten Alltagssituationen die Zwänge und Verhaltensmuster, die sie nach ihrer Vergewaltigung entwickelt hat.

Heidi Furre nutzt in „Macht“ kurze, pointierte Sätze, um Liv recht nüchtern und wie benebelt berichten zu lassen. Livs Gedanken scheinen wirr, haben auf den ersten Blick nichts mit ihrer Vergewaltigung zutun, um am Ende dann doch wieder genau dort anzukommen.
Zugegeben, bei dem ein oder anderen Gedanken fiel es mir schwer, zu folgen 🤪

Auch, wie sie zur Tat und dem Täter - sie nennt ihn Räuber - steht, wechselt ständig.
Mal ist sie wütend, gibt ihm die komplette Schuld und möchte Rache, mal hat sie Verständnis für ihn, verharmlost die Tat und gibt sich eine Teilschuld. Immer wieder muss ich mich selbst daran erinnern, dass dies ein fiktiver Roman ist, so authentisch wirkt die Protagonistin auf mich.

Was am Ende des Romans bleibt, ist (erneut) das bedrückende Wissen um ein System, in dem die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Es gibt immer noch zu viele Zufallsbegegnungen und Menschen, die zur falschen Zeit an einem falschen Ort waren. Kein Wunder, dass es so still ist, obwohl so viele betroffen sind. Es gilt hinzuschauen, wer die Macht hat, wem geglaubt und wem Schutz geboten wird. Allein schon deshalb spreche ich eine Leseempfehlung aus!

„Macht“ ist das erste - von Karoline Hippe - ins Deutsche übersetzte Buch der norwegischen Autorin Heidi Furre.

Vielen Dank an Vorablesen und den DuMont Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!