Zersplitterung

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Ohnmacht. Nach außen scheint alles in bester Ordnung, geregelt, problemfrei. Doch hinter Livs gutbürgerlicher Fassade wüten die Erinnerungen, Gedanken an ein Ereignis, das bereits 15 Jahre zurückliegt, von dem kaum jemand weiß, auch nur ansatzweise ahnt: Sie ist vergewaltigt worden! Schon allein dieses Wort so präzise zu denken, geschweige denn: auszusprechen, erscheint Liv nahezu unmöglich, hinterfragt sie doch permanent die Genauigkeit des durch sie Memorierten. Für lange Zeit hat sie das Erlebnis in einem wasserdichten, feuerfesten Kokon verschlossen, eingekapselt in der Vergangenheit. Doch nun wird eine neue Patientin in dem Heim, in dem sie als Pflegerin arbeitet, aufgenommen. Deren Bruder ist nicht nur ein berühmter Schauspieler, sondern auch ein angeklagter Vergewaltiger, der zwar von seiner Schuld vor Gericht „freigesprochen“ wurde, dessen Geschichte jedoch an Livs Innerem rührt, es aufzubrechen beginnt. Nur zaghaft nähert sie sich der Wahrheit, sinnt darüber nach, wie sie ihrem Mann Terje endlich davon erzählen soll. Und beginnt ihren ganz persönlichen Befreiungskampf.

„Meine Sexualität war ein Labyrinth, dessen Wände sich drehten. Ich konnte nie sehen, was ich wollte und wann ich es wollte“ (S. 80)

Übermacht. Ein schmales Bändchen, nahezu unschuldig kommt es daher, in zartem Rosé gehalten. Doch beim genaueren Hinsehen werden die Risse und Sprünge offenbar, die Scherben, aus denen das Leben der Protagonistin in Heidi Furres „Macht“ neu zusammengesetzt werden muss. Wie in einer Novelle stößt eine unerhörte Begebenheit Livs Handeln an, bringt sie in Bewegung, lässt sie reflektieren. Wie war das damals genau? Und was hat das mit meinem heutigen Ich noch zu tun? Sehr viel, wie ihr schnell bewusst wird...

Vollmacht. Zunächst versucht sie, sich von den Erinnerungen zu befreien, die ihren Alltag im Kleinen so sehr bestimmen. Kein Weg im Dunklen kann ohne gleichzeitig geführtes Telefonat mit Ehemann Terje gegangen, keinem Mann kann ohne den lodernden Verdacht begegnet werden. Selbst das Heranwachsen ihres fünfjährigen Sohns Johannes wird begleitet von angstvollen Gedanken an sein zukünftiges Männer-Ich. Liv vertraut sich ihrer besten Freundin Frances an, einer Künstlerin, die nicht nur Verständnis zeigt, konstruktives Verständnis ohne die befürchteten Beileidsbekundungen. Doch der Weg bis dorthin ist steinig und mit allerlei mentalen Rückschlägen gepflastert. Sinnbildlich steht dafür die Arbeit am eigenen Körper: Liv treibt die scheinbare, äußere Perfektionierung voran, lässt sich Falten entfernen, ihr Gesicht zu einer Maske operieren, hüllt sich in teure Kleidung. Nichts soll sichtbar werden, nach außen dringen, ihre „Verfehlung“ verraten. Denn hätte sie nicht selbst deutlicher „Nein“ sagen müssen? Hat sie ihr Nicht-Wollen eventuell nicht klar genug geäußert? Immer wieder sind es diese Fragen um Schuld und Verantwortung, die die Gedankenspirale neu befeuern, die sie mit Konsum zu stillen versucht.

Allmacht. Die Rückeroberung der Selbstermächtigung kleidet Heidi Furre in ein sprachliches Gewand der Kühle. Wir erleben die Protagonistin mit all ihren Innensichten, aber eben auch mit der Distanzierung, die sie im Alltag nach außen trägt. Ihre Reflexionen über das Richtig und das Falsch, das „Was wäre, wenn?“, entwickeln sich zu essayistisch anmutenden Diskursen, analytisch-psychologischen Gedankenspielen, die uns Liv immer mit ein wenig Abstand betrachten lässt. Und genau diesen Abstand, diese Entfernung zu sich selbst gilt es für sie in kleinsten Mini-Schritten zu überwinden. „Macht“ ist daher viel mehr als ein Roman: Es integriert hochwertige Ratgeber-Elemente in Erzählform, spielt mit den sprachlichen Formen, richtet sich immer wieder auch vorsichtig direkt an die Lesenden. Ein sehr intimer, sehr ehrlicher Blick auf den Prozess einer Entpuppung, der niemanden schont!