... aber Frauen

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martinabade Avatar

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Männer sterben bei uns nicht …

aber Frauen. Und die, die nicht sterben, verschwinden. Physisch, psychisch, emotional. Annika Reich baut ihre Geschichte auf wie ein Versuchslabor. Ein Anwesen am See, nicht verortet, mit fünf Häusern und sogar dem obligaten Garagenhäuschen, in dessen erstem Obergeschoss die Hauswirtschafterin lebt. Dazu die Personnage der Gegenwart: Großmutter, die Matriarchin und Großmutter Vera, Luise, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, Enkelin der Matriarchin und deren Mutter. Marianna, Tochter der Matriarchin und deren Tochter Olga. Und die offensichtlich Unsichtbaren: Leni, Schwester von Luise, wegen unbotmäßigen Verhaltens Knall auf Fall vom Anwesen in ein englisches Eliteinternat verbannt. Alice, Schwester der Patriarchin, die als Kind vor den Augen ihrer Schwester in das Eis des Sees einbrach und starb.

Zu guter Letzt: zwei anonyme tote Frauen, die eines Sommers kurz hintereinander am Seeufer angeschwemmt werden. Luise findet sie beide. Was es nicht gibt, sind Männer. Sie scheinen da gewesen zu sein, sind den Frauen aber nach und nach abhanden gekommen. Und so spinnt die Autorin unter ihrem Mikroskop ein Netz von Schuld und Abhängigkeit, Neugier und Spannung, Demut und Demütigung, dass Großmutter seit Jahrzehnten fein, aber beinhart dirigiert.

Luise ist die Lieblingsenkelin. Die von Großmutter auserkorene. Sie wird das alles hier erben. Keine andere, die auf dem Anwesen lebt, scheint Großmutters Ansprüchen zu genügen. Auch gegen sich selbst ist die alte Dame unerbittlich. Immer im Kostüm, immer im Schnallenschuh, frisiert und parfümiert. Stundenlang sitzt die kleine Luise an Großmutters (nie Omas) Mahagonitisch und paust historische Baudenkmale aus großen Bildbänden ab. Die Stifte sind immer gespitzt.

Annika Reich lässt uns nach und nach in die Seelen dieser Frauen. Großmutter überrascht alle, als sie verfügt, in einem kargen Sarg im kleinsten Kreis ohne Zeremonie beerdigt zu werden. Nur die ewige Hauswirtschafterin und scheinbar Vertraute war eingeweiht. Haben wir bisher die Geschichte aus der kindlichen Sicht Luises erzählt bekommen, tritt nun ein Strang in der Gegenwart hinzu. Nach und nach trudeln alle Protagonistinnen auf dem Friedhof ein. Und auch unerwartete Gäste stellen sich ein. Und wieder stellt sich heraus: jede von Ihnen trägt intimste Geheimnisse, Verletzungen und Annahmen über die anderen mit sich herum. Und was nun?

Die Autorin hat bereits eine Reihe von Romanen geschrieben, hat aber auch Kinderbücher verfasst und arbeitet journalistisch. Und das kommt uns als Leser:innen in diesem Buch nun zugute. Die ganze Schwere dieser Geschichte schildert Reich in einer unauffälligen, teilweise leichten Sprache. Es gibt es fast kabarettistische Wortspiele, die keinen Sarkasmus fehlen lassen, und kindliche Szenen, zum Beispiel als Luise und ihre Freundin Ruth in das geheimnisvolle fünfte Haus auf dem Anwesen einbrechen.

Dazu geistert eine Reihe von emotional aufgeladenen Gegenständen durch die Geschichte: ein paar Perlenohrringe, eine Brosche in Form eines Panthers, ein großes Motorrad. Und auch der See könnte einiges erzählen, wenn er nur könnte.