Es bleiben viele Fragezeichen

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missmarie Avatar

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"Männer sterben bei uns nicht", so lautet der Titel von Annika Reichs aktuellem Roman. Tatsächlich sterben auf dem Anwesen, das Luise samt Mutter, Großmutter väterlicherseits und einiger weiterer Verwandten bewohnt, keine Männer. Schlicht deshalb, weil es keine gibt. Der Großvater und Luises Vater sind eher Gespenster, die hin und wieder durch die Erzählungen der Familie geistern als Menschen aus Fleisch und Blut. Dennoch gibt es auf dem Anwesen ein eigenes Haus der Männer - inklusive darin gelagertem Motorrad. Doch wer nun annimmt, dass die verbliebenen Frauen eine eingeschworene Gemeinschaft bilden, der hat sich getäuscht. Jede misstraut der anderen und achtet penibel darauf, ob die Fassade stimmt. Dabei ist die bei Luises alkoholkranker Oma mütterlicherseits, die ebenfalls auf dem Hof wohnt, schon längst kaputt. Luises ältere Schwester ist gleich ganz verschwunden und Tante und Cousine zeigen sich nur sporadisch an den Wochenenden auf dem Gelände. Im Fokus der Romanhandlung steht dann aber doch der Tod. Die Großmutter der väterlichen Seite ist gestorben, Luise als ihrer Erbin soll das Matriarchat der alten Lady fortsetzen. Am Grab der Großmutter kommen die Frauen seit Jahren wieder erstmals zusammen.



Annika Reich arbeitet in ihrem Roman mit vielen Rückblenden. Die eigentliche Handlung spielt am Tag der Beerdigung. Dazwischen gibt es Rückblenden in Luises Kindheit auf dem Anwesen und in die jüngere Vergangenheit. Vielleicht liegt es an diesen Sprüngen, dass mich der Roman ein wenig ratlos zurücklässt. Die angesprochene Thematik rund um die Großmutter finde ich sehr spannend. Wie herrscht man über ein Anwesen samt Vermögen? Muss man dafür hart wie ein Mann werden? Kann auch feministische Führung zum Überleben der "Dynastie", wie Luise ihre Familie manchmal scherzhaft nennt, führen? Oder geht Stärke einher mit strengen Verhaltensregeln, mit Selektion und Misstrauen. Diese Aspekte des Romans haben mich sehr interessiert. Dann sind da aber die vielen losen Enden, die ich nicht zusammenfügen kann: Die toten Frauen, die Luise als Kind im See findet. Die verschwundenen Männer, die Zeit im Krieg, über die niemand spricht. Die zu tiefst vergifteten Beziehungen der Frauen untereinander. All das wird nicht schlüssig zusammengeführt und lässt den Leser mit Fragezeichen zurück. Hier ist so viel symbolisch verpackt, dass man nicht recht weiß, mit welchem Schlüssel man wo ansetzen soll.



Für mich ergibt sich ein vages Bild von gewollten und ungewollten Kindern bzw. Partnern und möglichen Verbindungen zu Nazigeld. Allerdings ist dieses Bild so nebulös, dass meine Interpretation eher auf Vermutungen als auf Text beruht. Das hat mich wenig befriedigt zurückgelassen. Meiner Meinung nach liegt es daran, dass Reich bewusst die Figur, die am wenigsten weiß, als Erzählerin nutzt. Selbst die anderen Frauen bezeichnen Luise so. Die Autorin vergisst dabei allerdings, dass Luise im Erzählstrang der Gegenwart kein Kind mehr ist. Eine Erwachsene sollte durchaus in der Lage sein, eigene Schlüsse zu ziehen und den Leser nicht derartig im Dunkeln tappen zu lassen.