Großmutter stirbt bei uns nicht

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bookiejulia Avatar

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So. Ich hab‘ mir jetzt erstmal für Großmutter die Nägel gemacht. Ihr Geist schwebt immer noch über mir.

„Oder, Lu, so war sie doch, unserer Großmutter? Eine Herrschende. Eine Herrin.“

Luises Großmutter ist durch und durch Patriarchin. Sie bestimmt, wer Macht hat und entscheidet sich für sich selbst. Und weil eine Herrscherin auch eine Erbin, eine Nachfolgerin für ihr Machtvakum, braucht, ist Luises Leben gekennzeichnet von den Vorstellungen ihrer Großmutter.

„Es galt, unter allen Umständen die Form zu wahren oder den Schein. Wenn meine Mutter, Justyna oder ich verletzt wurden dann waren wir selbst schuld; und wenn wir irgendetwas anderes dafür verantwortlich machten als unsere eigene Schwäche, dann drückten wir auf die Tränendrüse, dann glaubte uns mit Recht niemand.“

Eine Frau, die sich Großmutters Idealen nicht fügt, kann, koste es was es wolle, nicht länger am Hof der Königin verweilen und dadurch die Ordnung gefährden. Luise darf daher nicht gemeinsam mit ihrer Schwester aufwachsen und lernt stattdessen wie eine Dame zu weinen hat, welcher Nagellack als nicht verzweifelt gilt, wen Schmuck zum Strahlen bringt und an wessen unwürdiger Gestalt er nur vergeudet wäre; sie lernt den Schein zu wahren. Den Schein, der verbirgt, dass die Männer hier nicht starben, sondern kamen und gingen wie sie sie selbst es wollten.

„Meine Großmutter ertrug Männer im realen Leben nicht, aber sie stellte nie in Frage, dass Männer die angenehmeren Zeitgenossen waren. Männer jammerten nicht herum, trugen Verantwortung, bezogen Stellung, bewahrten Haltung […].“

Vor allem im letzten Drittel hat Annika Reichs Roman eine bedrückende Traurigkeit in mir ausgelöst. Die Spannung aufgrund der zahlreichen Familiengeheimnisse und der toten Frauen verschwindet alsbald wir vollständig hinter die von Großmutter errichtete Fassade blicken können und macht Platz für glanzloses Mitleid.

„Vielleicht hatte Großmutter nur eine Kleinigkeit vergessen. Vielleicht hatte sie vergessen, dass sie eins eben doch nicht war; ein Mann.“

So viele kritische Kommentare ich bereits auch schon über dieses Buch gelesen habe, für mich ist es dennoch sehr lesenswert und stellenweise grandios gewesen. Durch die vielen Zeitsprünge fordert das Folgen der Geschichte teilweise ziemlich die eigene Konzentration heraus - man sollte die geringe Seitenanzahl des Buches also nicht unterschätzen. Was bei mir aber ganz fehlgeleitete Vorstellungen geweckt hat, war der Titel. Ich dachte eher, es ginge darum, zu ergründen, was denn dann Interessantes mit den Männern passiert. Verschwinden sie denn auf andere Weise mysteriös? Werden sie zu gut umsorgt, um zu sterben? Eigentlich ist es eher „Großmutter stirbt bei uns nicht“, denn ihr Einfluss ist definitiv nachhaltig.