Matriarchat mit Macken

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Zur Beerdigung von Luises Großmutter ist der komplette Clan gekommen: Tochter, Schwiegertochter, die gegnerische Schwiegermutter, Enkelinnen und die Perle Justyna – nur Frauen. Selbst der Friedhof der Gegenwart birgt offenbar nur Gräber von Frauen. Die 30-Jährige ist es gewöhnt, dass Großväter, Väter und Onkel allein in Geschichten existieren; ihre Welt wurde lange nur von den Werten der Großmutter beherrscht. Luises Gedanken wandern 20 Jahre zurück, als sie am See des großmütterlichen Anwesens in kurzem Abstand zwei Frauenleichen entdeckte. Ihre Großmutter hat offenbar nur im Sinn, Luise sofort vom Wasser fernzuhalten, damit sie sich nicht hineinstürzt. Kurz zuvor war die Neunjährige unvorbereitet damit konfrontiert worden, dass ihre Schwester in ein fernes Internat geschickt worden ist. Noch immer nachhaltig schockiert, glaubt sie zuerst, die Tote am See wäre die totunglückliche Leni.

In schrittweisen Rückblenden blättert Luise das Leben auf dem großmütterlichen Anwesen auf, das wie das Diorama einer untergegangenen Epoche von der Großmutter bespielt wurde wie ein Puppenhaus. Mutter Ingrid samt Leni und Luise bewohnte auf dem Gelände ein eigenes Haus, ebenso Ingrids Mutter Vera, sowie Tante Marianna mit Tochter Olga, ein weiteres Haus steht seit langem leer. Justyna durfte - standesgemäß für ein Dienstmädchen - in der Etage über einer Garage wohnen. Großmutters Welt war so simpel wie funktionsuntüchtig. Solange sie fern des Anwesens leben, werden Männer vergöttert, unter Raunen über Krieg, ferne Kontinente, kostbare Mitbringsel und sexuelle Gewalt. Frauen dagegen sind schwach und nicht ernst zu nehmen. Was man hat, das schätzt man nicht … Das System, in dem nahe Personen den Ansprüchen nie genügen werden, abwesende Angehörige jedoch idealisiert werden, inszeniert Annika Reich vor einer leicht angestaubten Kulisse.

Frauen sind in dieser Welt nur zugelassen, wenn sie manipulierbar sind und keine ernstzunehmenden Partner wählen. Das System des Vertuschens und des schönen Scheins funktioniert, solange alle ihre Selbstlügen hätscheln und Schuld stets anderen zuweisen. Kritische, fortpflanzungsfähige Exemplare wie Leni werden entfernt, im Unklaren darüber, welche Rolle im Matriarchat ihnen auf den Leib geschneidert wäre. Mit welchem Auftrag die eine Enkelin in die Welt hinaus geschickt und die andere mit Juwelen ans Haus gebunden wird, darüber geben vielleicht Volksmärchen ausführlicher Auskunft.

Luise wurde von der Matriarchin zur Erbin und Nachfolgerin bestimmt; mit Klunkern und Geschmeide hat sie sich auf Großmutters Seite ziehen lassen. Beide Frauen ignorieren, dass ein „Anwesen“ auch Sachverstand erfordert. Dass Luise nicht zu erkennen gibt, ob sie den Denkfehler dieser Erbfolge durchschaut hat, lässt sie als leicht beeinflussbare Icherzählerin leider zu farblos wirken. Spannend und überraschend dicht erzählt, symbolstark und zum Ende etwas abflachend – ein Matriarchat mit Macken.