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Luises Großmutter ist gestorben. Die alte Dame war die Patriarchin der Familie. Aus ihrer Ahnenreihe stammt das immense Vermögen, von dem die Familie lebt und von dem nicht ganz klar ist, ob ihm der Schmutz des Krieges anhaftet. Dazu gehört „das Anwesen“: Ein wunderschön am See gelegenes Grundstück mit fünf Häusern, von denen vier von den Frauen der Familie bewohnt werden. Männer sucht man in diesem Kontext vergebens, sie bilden höchstens Schatten und Hintergrund: „Meine Großmutter ertrug Männer im realen Leben nicht, aber sie stellte nie in Frage, dass Männer die angenehmeren Zeitgenossen waren.“ (S. 92)

Die Großmutter legt viel Wert auf ihren Status, auf anständiges Benehmen, korrektes Erscheinen und Etikette. Sie unterteilt die Welt in Gut und Böse, wer ihren Standards nicht entspricht, wird ausgemustert oder fällt in Ungnade. Dieses Schicksal haben fast alle Familienfrauen erlitten. Sie dürfen zwar auf dem Anwesen leben, müssen sich ansonsten aber dem Willen der Patriarchin beugen und ihren bissigen Spott ertragen. Einzige Ausnahme bildet von Klein auf Luise. Sie ist Großmutters Augenstern und wurde als ihre legitime Nachfolgerin auserkoren. Dazu gehört auch die komplette Erbschaft des Vermögens. Dass das bei den anderen Familienmitgliedern nicht auf Sympathie stößt, kann man sich vorstellen.

Die Geschichte wird von Ich-Erzählerin Luise erzählt. Die Kernhandlung findet während der unmittelbaren Trauerfeier statt. Luise beobachtet den von der Großmutter geplanten höchst eigenwilligen Ablauf der Beerdigungszeremonie. Immer wieder schweifen dabei ihre Gedanken ab. Sie beschäftigt sich intensiv mit Episoden und Erlebnissen aus ihrer Kindheit und Jugend, die die komplizierte Familienkonstellation und -historie erklären, die aber auch zeigen, dass Luise keine unbeschwerte Kindheit hatte. Die Übergänge der Zeitebenen gestalten sich fließend: Die mittlerweile 30-jährige Erzählerin stößt auf ein Stichwort oder eine Beobachtung, die sie direkt zu ihren episodischen Rückblicken führen. Die kurzen Kapitel sorgen diesbezüglich für Struktur, so dass man keinerlei Mühe hat, der Handlung zu folgen.

Der Roman startet mit einem Paukenschlag, als die neunjährige Luise innerhalb weniger Monate zwei tot angeschwemmte Frauen am Ufer des Sees findet. Luise ist sehr geschockt, zumal sie zunächst ihre ältere Schwester Leni im Wasser zu erkennen glaubt. Leni ist Luises Bezugs- und Vertrauensperson gewesen – bis sie fort- und auf ein englisches Internat geschickt wurde. Dieser Verlust schmerzt Luise unendlich. Die Reaktionen der Erwachsenen auf die toten Frauen fallen höchst seltsam aus, lediglich die Großmutter gibt dem Kind Sicherheit, erwartet aber auch ein schnelles Vergessen des Ganzen. Luises Mutter wirkt indessen hochgradig instabil und ihren wechselhaften Stimmungen unterworfen. Sie kann keine Gefühle zulassen: „Meine Mutter verschob ihre und meine Gefühle nicht nur, um ihnen irgendwann besser begegnen zu können, sie verschob sie auf Nimmerwiedersehen.“ (S.33)

Die Verzahnung der Ebenen wird gekonnt gelöst. Die Figuren wirken in all ihrer Ungewöhnlichkeit glaubwürdig. Luise ist eine brillante Beobachterin der Szenerie rund um den Friedhof. Die spitzen Dialoge tun ihr Übriges, den Charakteren zahlreiche Facetten zu verleihen. Währenddessen sorgen die Episoden aus der Vergangenheit dafür, dass sich das Netz der komplexen familiären Beziehungen immer mehr komplettiert. Tragische Verluste und traumatische Erlebnisse, die sich Luise meist aus Erinnerungsfragmenten erschließen muss, säumen die Familienbiografie. Die Großmutter wirkt meistens unnahbar, spielt gegeneinander aus. Ihr selbstgerechtes Verhalten gepaart mit der deutlichen Bevorzugung eines Enkelkindes erzeugt ein Klima des Misstrauens und der Eifersucht. Die Großmutter als Zeremonienmeisterin steuert und manipuliert, hat Geheimnisse und verschweigt vieles. Die aufgestauten Konflikte drohen, bei der Trauerfeier zu eskalieren. Luise ist die beobachtende Außenseiterin des Szenarios. Mit dem Tod der Großmutter muss sie sich über ihre neue Rolle klar werden: „Ich war Erbin der Steine und des Anwesens, der toten, aussortierten und verschwundenen Frauen, ob ich es wollte oder nicht.“ (S. 78)

Über weite Strecken habe ich diese leicht beklemmende Atmosphäre als sehr fesselnd empfunden. Die Autorin erzählt bewusst nicht alles aus, sie arbeitet mit Andeutungen und (wiederkehrenden) Motiven, woraus sich mein latentes Interesse speiste. Annika Reich kann schreiben. Sie hat einen unaufgeregten Stil, schildert bildlich und intensiv. Der Schauplatz, auf dem sie das unglückliche Leben der Reichen aufmarschieren lässt, ist wunderbar gewählt und verspricht zunächst eine spannende Familiengeschichte. Doch irgendwo im letzten Drittel hat mich der Roman verloren. Ich kann gar nicht sagen, woran es konkret gelegen hat. Ich habe kein Problem mit offenen Enden, doch dieser Ausgang bleibt mir zu vage, zu sehr in der Luft schwebend. Mir fehlt eine finale Entwicklung. Die einzelnen Rückblicke lesen sich interessant, aber wo ist ihr Zusammenhang, wo ist die Grundaussage des Romans? Vielleicht habe ich ihn trotz intensiven Lesens nicht komplett verstanden, vielleicht habe ich Bausteine übersehen. Die letzten Seiten decken auch eine starke feministische Botschaft nach Frauensolidarität auf, die sich mir aus dem Text allein nicht erschließt und daher übergestülpt auf mich wirkt.

Ich bin sicher, dass der Roman seine Leser finden wird. Titel und Cover wurden wunderbar gestaltet und machen neugierig. Von mir gibt es leider nur eine eingeschränkte Leseempfehlung.