Wenn Matriarchat gleich Patriarchat ist

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luna80 Avatar

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Ein faszinierender Blick in eine Welt, in der Männer physisch vollständig abwesend sind. Diese Geschichte offeriert Annika Reichs Roman. Es dreht sich um eine Familie aus sieben Frauen, die in einem großen Anwesen am Ufer eines Sees leben. Hier wird ein Matriarchat durch die Großmutter väterlicherseits etabliert und am Leben gehalten, doch eigentlich gleicht es einem Patriarchat. Die Besitzerin des Anwesens, eine der Großmütter der Ich-Erzählerin Luise, übt eine strenge Kontrolle aus und führt ein straffes, emotionsloses Regiment. Widerstand, wie ihn Luises ältere Schwester Leni zeigt, führt zur Verbannung aus dem familiären Mikrokosmos.

Der Roman zeichnet sich durch eine unromantische, dennoch äußerst poetische Erzählweise aus. Er entführt uns in eine Welt voller Rätsel, die zuweilen wie aus einem Mystery-Thriller wirken („Ihr Jonathan Frakes“ lässt grüßen). Die 10-jährige Luise findet innerhalb eines Jahres zwei tote Frauen am Ufer des Sees. Die Umstände ihres Todes bleiben ungeklärt, doch es herrscht die allgemeine Annahme, dass Liebeskummer sie ins Wasser trieb. Luise bleibt mit ihren Gefühlen und ihrer Verwirrung um diese Geschehnisse alleine. Erhält keinen emotionalen Halt, der hier unabdingbar wäre.

Die zweite Erzählebene fokussiert auf das Begräbnis der Matriarchin. Hier reflektiert die inzwischen 30-jährige Luise über ihre Kindheit und ihre Rolle als "Augenstern" ihrer Großmutter. Sie erbt nicht nur den Schmuck und das Anwesen mit den anderen 5 Häusern, sondern auch ein Geflecht aus Geheimnissen, Misstrauen, Traumata, Lügen und Sehnsüchten einer männerlosen Familie – eine riesengroße Bürde! Klar zum Vorschein kommt an diesem Grab auch, wie tief die Wunden bei den einzelnen Personen sitzen und was dieses Gefüge über die Jahre mit allen angerichtet hat.

"Mutterseelenallein. Mich nervte das Pathos dieser Vokabel, aber genau das war ich, das waren wir: mutterseelenallein. Wie russische Puppen, die man ineinandersteckt. Ich war mutterseelenallein, weil meine Mutter mutterseelenallein war, die mutterseelenallein war, weil ihre Mutter [...]" (Z)

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Annika Reich entführt die Leser*innen in eine Welt, in der Frauen ihre eigene Macht und Dynamik entfalten. Die diese Dynamik aber aufgrund von Geheimnissen und vergangenen Geschehnissen, die nicht thematisiert werden, nicht alle durchblicken oder nicht aufarbeiten können. So grausam es ist, so spannend ist es zeitgleich zu verfolgen, wie es die Großmutter schafft, dieses System, dem sich auch alle beugen, zu erhalten. Es mutet phasenweise an wie kalter Krieg im Familienverbund. Ein Verbund, den die Figuren im Buch gar nicht so empfinden. Eher eine Zweckgemeinschaft, der man nicht entkommen kann. Ein genialer Schachzug ist auch, das Reich gewohnte Geschlechterrollen einfach umgedreht hat und das Patriarchat in eine „frauen-geführte“ Familie einschleust.
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Die rätselhafte Stimmung und die tiefgründigen Charaktere machen diesen Roman zu einem spannenden Leseerlebnis. Alle Figuren wurden für mich wunderbar in Szene gesetzt, auch solche, die erst gegen Ende des Romans auftauchten. #leseempfehlung