Where have all the flowers gone?

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Ursula Wiegels Familienroman „Malvenflug“ beginnt mit einem Personenverzeichnis, in dem die wichtigsten Mitglieder der Familie Prochazka aufgeführt und ihre wichtigsten Stationen genannt sind. Das ist gut so, denn obwohl der Roman nur 223 Seiten füllt, besitzt er ein kopfstarkes Personal, in dem man nicht jedes Gesicht und jeden Namen sofort wiedererkennt.
Im Zentrum stehen die vier Kinder von Emma und Pavel (Paul) Prochazka und eben die beiden, der sich früh auseinandergelebt haben. Emma trägt die gemeinsamen Schulden als Gastarbeiterin im schweizerischen Davos ab (Hans Castorp winkt da auch mal durch die Zeilen), Pavel flattert als Lebemann noch weiter von Blüte zu Blüte, ehe er woanders weitere Nachkommen zeugt.
Wiegele erzählt das Schicksal der Familie Prochazka in ihrem zweigeteilten Roman in kurzen Kapiteln, die wie Dioramen nur jeweils kurze Ausschnitte aus dem Leben der Figuren zeigen. Man kommt den Familienmitgliedern deshalb nicht besonders nahe, verfolgt manche Station gleichsam wie aus einem tabellarischen Lebenslauf entnommen. Dennoch gelingt es der sehr knappen, auf das Wesentliche beschränkten Erzählhaltung Wiegeles, aus diesen wenigen Seiten mosaikartig das Panorama einer weitverzweigten Familie darzustellen – in Einzelbildern.
Das zentrale Motiv des Romans ist der Personenverbund der Familie – betrachtet als Individuen eines lebendigen Organismus. Beim Lesen verfolgt man das Werden und Vergehen der Familienmitglieder, wiederzufinden im Motiv der Blumen, an denen viele Figuren des Romans hängen. Die Stockmalven Helgas und Lottes sind wie die Familie: Der Samen der Blumen setzt den Organismus fort, wird in der Welt verstreut, blüht auf, mehret sich, bringt neue Triebe hervor und passt sich der Umwelt an. Samen sind so widerstandsfähig, wie fertige (gepresste) Blüten empfindlich sind – postalisch versendet, erreicht keine von ihnen das Ziel unbeschädigt (S. 208 f.). Auch Menschen verkraften die Entwurzelung und Verschickung nicht immer gut – am krassesten sichtbar an den Großeltern aus dem mährischen Brünn, die als Deutsche nach dem Krieg auf einem Todesmarsch aus der Tschechoslowakei vertrieben werden. Diese Blumenmetapher ist nicht besonders originell, aber sie unterlegt den Roman dezent und lässt sich vor allem durch den Titel „Malvenflug“ aufschließen.
Das Motiv der Familie wird bei Wiegele durch die großen Drangsale der Zeit der 1930er (erster Teil) und der Nachkriegszeit (bis in die 1990er Jahre) durchgespielt. Unaufgeregt, aber bestimmt leitet die Autorin uns beim Lesen durch das Länderviereck Österreich, Slowakei, Schweiz und Italien und führt das Verbindende vor, das gleichzeitig das Trennende ist: Krieg, Nazimus, Vertreibung. Dabei stellen die im Text auffälligen Austriazismen sprachlich klar, wo der Gemütskern des Romans steckt: in Österreich. Alle kleineren Motive finden sich in einzelnen Figuren gespiegelt.
Genauso unaufgeregt zeigt die Autorin die Ambivalenz des Einzelnen: Emma kann eine „Heldin“ der Familie sein, weil sie durch ihre aufopfernde Schufterei in den Schweizer Hotelküchen die Familie wirtschaftlich erhält, gleichzeitig geht ihre „Sparwut“ den Kindern zumal später auf die Nerven und verhindert, dass die Mutter in ihrer Zeit des Heldentums auch Mutter sein kann. Sohn Alfred enttäuscht den feschen Vater, weil er zwar zunächst die harten Anforderungen der Napola meistert, dann aber frömmelt, Priester wird – um sich schließlich doch wieder dem weltlichen Stand zuzuwenden und eine Familie zu gründen. Uneheliche Kinder, Ehebruch, Holocaustverleugnung, Gefühlskälte – nichts Menschliches ist hier fremd. Die Ambivalenz des Einzelnen wird dabei wertfrei dargestellt und nicht verurteilt. So kann die Autorin über politische Verirrungen, kleinbürgerliche Engstirnigkeit und zwischenmenschliche Schwächen erzählen, ohne ein Urteil – oder eine echte Deutung zu liefern.
Das hat mir gefallen, auch wenn ich gerade des nüchternen Stils, wegen und wegen der vielen Gesichter lange gebraucht habe, mit dem Roman warm zu werden. Ein Familienroman ohne große Aufregungen, sondern mit andeutungsweiser Zurückhaltung, dessen (Be)Deutung nicht unmittelbar auf der Hand liegt.