Der Krüger heißt jetzt wieder Pascal

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stefan110 Avatar

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Christian Huber erzählt in „Man vergißt nicht, wie man schwimmt“, wie ein Jugendlicher lernt, dass man nur im hier und jetzt leben kann.


Christian Huber schenkte am 31.August 1999 dem apathischen Bodenstein alles, was es jahrelang verdöst hatte. Einen Zirkusbesuch, eine Schießerei, ein Diebstahl, eine große Sause, eine Cannabispflanzung, einen Colt aus dem späten 19. Jahrhundert und junge Liebende im Taumel zwischen Moos und Ast.


Der Held des Romans heißt Krüger. Das ist Spitzname. Neben dem ins-Bett-verkriechen, dem langen Schlafen schützt ihn sein Notizbuch vor der Welt. Da trägt er ein, was ihm so durch die Rübe rauscht. Kurze Momentaufnahmen, Tagträumereien, die er in seiner Lage braucht, und natürlich Geschichten. Da kämpft er gegen einen Moloch, der in sein Zimmer eindringt. Aber das ist Krügers Geheimnis. Das verrät er niemanden, selbst seinem besten Freund Viktor nicht. Der könnte als Modell für die „Bravo“ posieren, trägt aber ganz dicke Brillengläser. Viktors Vater ist Lateinlehrer und Krügers Mutter geht putzen. Dass die Söhne trotzdem miteinander auskommen, dürfte heute, wo es Geringverdiener und fleißige Leute gibt, nicht mehr so leicht möglich sein. Aber der feine Unterschied treibt schon erste Blüten. Es war die Zeit als es mit Premium- und Designermarken losging, was Krüger auf der Party genau registrieren wird.

Krüger und Viktor sind fünfzehn. noch nicht sechzehn. Also haben sie Troubles, an Alk ran zukommen. Habituelle Abwechslung bietet daher das Schwimmbad. Und hier verhält sich Krüger „übelst“. „Übelst“ stammt aus dem privaten Wortschatz der beiden. Es ist eben „verpicht“, einer Neuschöpfung, das Lieblingswort Viktors. „Verpicht“ entspricht = versemmelt, vergeigt, wie ältere Herren formulieren. Einschub zu Ende. „Übelst“ deshalb, da Krüger selbst im Schwimmbad zwei T-Shirts übereinander trägt und nie ins Wasser geht. Obgleich, gut schwimmen kann er, wie eine Urkunde in seinem Zimmer beweist. Bodenstein ist die Steigerung von langweilig und so gibt es nur nur noch den Müller-Markt, der noch etwas Abwechslung bietet. Da gibt es kostenlose Videospiele. Und jetzt kommt die Geschichte in Fahrt. Krüger sieht plötzlich rot blitzendes Haar davonrennen; dahinter einen laut brüllenden Filialleiter. Krüger verfolgt sofort das Mädchen. Ein kleiner Schnitt: Krüger im Gespräch mit einer alten, halbblinden Bildhauerin: (Huber schreibt „Steinmetzin“). Das Mädchen war in deren Betrieb gelaufen und Krüger hinterher. Die Frau rät ihm, zum Zirkus zu gehen. Dort könne er das Mädchen finden. Viktor und Krüger ab mit dem Fahrrad zum Zirkus. Die Flüchtige heißt Jacky, arbeitet beim Zirkus als Messerwerferin und hatte beim Müller ein Handy gemopst. Das war vor zwanzig Jahren ein erlesenes Prestigeobjekt für Jugendliche. Jacky ist lebenshungrig. Der letzte Sommertag in diesem Jahrtausend soll etwas Besonderes werden. Erst die Vorstellung, dann den Fluss hinab um die Haschplantage der „Hunnen“ zu finden, einer Bande die bei den Jugendlichen durch dicke Ärme und teure Autos imponiert. Und dann zur Party bei Ayala und Anna. Das sind die „Göttinnen“, zwei drei Jahre älter und aus guten Haus. Selbstverständlich sind Krüger und Victor nicht eingeladen. Und jetzt Vorhang auf für die Manege. Wie Jacky tollkühn das Messer wirft. Zack, zack millimetergenau am Körper der Direktorin vorbei. Und wie der Panther, der Rilkes Gitterstäben entkam, von Jacky besänftigt wird! Hat es diese begnadete, große Artistin nötig, ein Handy zu klauen? Danach erforschen die drei den Wald entlang des Flusses. Hier muss das Feld der schnellen Träume liegen, die die „Hunnen“, an Bodensteins Jugend verkaufen. Krüger fühlt sich wohl, wenn die starke Jacky bei ihm ist. Ihre Energie fließt ihm zu. Für seine Verhältnisse ist es tollkühn, auf einen Hochsitz zu klettern. Aber er zwingt sich; denn oben wartet Jacky. Die Gruppe trödelt sich so den Waldweg entlang. Keine Plantage nirgendwo, dafür die Kneipe „Colorado“ linker Hand, bekannt für ihre kulante Einstellung zum Jugendschutz und der Waffensammlung an den Wänden. Der Wirt reicht auch gleich drei Helle. Am Spielautomaten verklärt der Rausch Erinnerung. Günter, ein früherer Pferdezüchter, unterhält sich mit seiner Vergangenheit. Setzt sich dann aber zu den Jugendlichen. Die suchen noch nach einem Geschenk als Eintrittskarte für die Party. Günter, froh ein bisschen in der Gegenwart zu sein, holt aus seinem Auto eine Polaroid-Kamera. Und Jacky und Krüger finden sich in einem Bild.

Hier ist der Vater nicht alkoholkrank, hier geht die Mutter nicht putzen, hier steht der schicke Schlitten vor der teuren Villa. Dumpf dröhnt Bass, die ungeladenen Gäste vermischen sich sofort. Huber drückt immer mehr aufs Tempo. Irgendwann geht auch diese Nacht zu Ende. Krüger schöpft Selbstvertrauen aus Jackys roten Haaren, ihrer Divenart die Zigarette zu halten, ihrer Kunst des Messerwurfs. Und so einer gefalle ich. So kann er, der ungelenke Stoffel, plötzlich tanzen und wird später Viktor einen Kinnhaken versetzen. Dieser wiederum wird mit der kleinen Schwester eines „Hunnen“ knutschen und den Colt, dem er im Colorado klaute, dem Chef überreichen. Und Jacky wird eines Diebstahls bezichtigt.

Nach dem Kampf mit Viktor macht Krüger die Flatter. Nach Hause, ein kurzer Traum, ihm erscheint die alte Bildhauerin. Sie meißelte den Januskopf, eine Skulptur, die hoch über dem Flußufer thront. Dort hin fährt Krüger und trifft Jacky. Sie macht Krüger Vorwürfe. Er habe sie nicht beschützt, als es auf der Party hieß, sie habe einen Armreif geklaut. Krüger verteidigt sich. Erzählt von früher. Warum er nicht schwimmt und immer ein T-Shirt trägt. Als er seine Mutter habe schützen wollen, habe sein besoffener Vater ihm heißes Wasser über den Oberkörper geschüttet. Darum die Narben, darum wird Pascal Friedrich „Krueger“ nach dem Monster aus den Nightmare-Filmen genannt. Wer geliebt wird, darf schwach sein. Jacky entblößt ihre von einem Löwen entstellten Unterarme. Huber gerät jetzt groß in Fahrt und dreht einen Western voller Action. Die Naab, die sonst so bedächtig dahinfließende ,wird quasi zum Mississippi. Die beiden Liebenden springen hinein – zum ersten Mal schwimmt Krüger seit Jahren – und lassen sich den Fluss hinuntertreiben. Sie entdecken eine von Ästen verdeckte Bucht. Am Ufer eine Campingausrüstung und etwas weiter landeinwärts die lang gesuchte Plantage. So weise angelegt, daß sie nur vom Fluß aus zugänglich ist. Das hatte ich den „Hunnen“ gar nicht zugetraut. Gerade als sich Jacky und Krüger zum Abschied noch etwas mit Shit versorgen wollen, hören sie Ruderschläge und Stimmen. Die Hunnen kommen! Hilft der Regen? Wird er die Fußspuren der beiden verwischen? Zu spät. Die Hunnen durchforschen das Gelände. Letzte Zuflucht im Gebüsch. Huber baut zum Abschluss eine Zirkusnummer ein. Jacky hebt eine Gaskartusche auf, wirft sie in die Luft und ihr Messer hinterher. Glas splittert, Gas entströmt und Krüger schmeißt sein brennendes Feuerzeug in die Wolke. Eine Explosion und es kokeln und schwärzen rauchig die Pflanzen. Sofort rennen Jacky und Krüger zum Ufer und ab ins Boot. Ein Schuß der Hunnen durchzuckt Krügers Schulter. Viktor, der mit der Bande kam, ruft mit dem geklauten Handy Polizei und Notarzt herbei.

Das verschlafene Nest, die Liebenden, eine Bootsfahrt und der Fluss: Huber muss Tom Sawyer gerne gelesen haben. Das Jahr 1999 sieht Huber nüchtern. Schon damals hatte der Joint jede revolutionäre Aura verloren und so wie die „Göttinnen“ über ihre Putzfrau reden, ging´s mit den Sozialstaat bergab.

Abspann: Pascal Friedrich kehrt nach Jahren kurz nach Bodenstein zurück. Er hat sich keiner Schönheitsoperation unterzogen. Er wollte nicht jahrelang vor sich hinträumen. Er ist Jugendtrainer einer Schwimmmannschaft. Er geht zum Steinmetzbetrieb und sieht kurz eine rothaarige Frau in einem ärmellosen Kleid vorbeihuschen.
Das Buch hämmert auf jeder Seite dem Leser ein: Heute ist dein Leben. Erwarte nichts von morgen.