Eine ganze Menge Leben

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
griseldis2000 Avatar

Von

Bernardine Evaristo hat den Booker Preis gewonnen. Eine Auszeichnung und Anerkennung, die nicht vielen Schreibenden zuteil wird. Sie sagt von sich, dass sie davor wenig Anerkennung erfahren hat, vor allem nicht in finanzieller Hinsicht, dass sie sich damit aber niemals abgefunden hätte, wie so viele ihrer Künstlerkolleginnen, nur weil sie die falsche Hautfarbe hatten und noch dazu Frauen waren.
Dass Offensichtliche an „Manifesto“ ist für mich die kämpferische Selbstbehauptung. Das hat wenig Gefälliges. Evaristos Motto scheint schon immer gewesen zu sein: Sie müssen mich nicht mögen, aber sie sollen mich bemerken. Und nun wird sie bemerkt. Als Frontfrau der Diversität.
Der Roman „ Mädchen, Frau, etc.“ war wohl eher die Ausnahme in ihrem künstlerischen Schaffen, da sie ansonsten ihre Romane und Texte in lyrischer Prosa schreibt. Reine Prosa, wie auch im „Manifesto“ sei eigentlich nicht ihre eigene Stimme, die sie erst einmal finden musste.
Vielleicht liest sich deshalb dieser Text für mich eher etwas langweilig, die Erzählstimme hat etwas belehrendes und sehr distanziertes:
„Ich habe nie eine Therapie gemacht, weil ich ganz gern mit meinen Dämonen lebe. Ich bin ganz gut darin, mich selbst zu befragen und hatte nie den Drang, Hilfe zu suchen. Wahrscheinlich ist auch dieses Buch ein einziger großer Akt der Selbstbefragung“.
Fragen höre ich im Text wenige. Es sind Statements. Sie klingen selbstbewusst aber auch rechtfertigend. Sehr erstaunlich, dass in einer Autobiographie die sieben Geschwister kaum thematisiert werden. Aber vielleicht hat das mit Persönlichkeitsrechten zu tun. Mich hat „Manifesto“ emotional wenig berührt. Ich höre eine harte, selbstgerechte, persönlich wenig reflektierte, gesellschaftlich und künstlerisch hochdifferenzierte Persönlichkeit, die sich hauptsächlich mit ihrer Identität als people of colour auseinandersetzt. Das ist interessant auf politischer, gesellschaftlicher Ebene. Den Menschen „Bernardine“ habe ich nicht im Manifesto gefunden. Ich verstehe, dass sie sich nicht therapieren lassen will, sondern ihre eigene Wahrheit finden möchte. Denn auch Therapie ist noch immer „weiß und männlich“. So lange das so ist, muss die Selbstbefragung genügen und die dreht sich naturgemäß um sich selbst. Irgendwie unbefriedigend. Was Bernardine Evaristo zum Thema Schreiben und den eigenen künstlerischem Ausdruck finden, zu sagen hat, ist hochspannend. Genauso wie ihr Versuch, ihre Herkunft und ihr kulturelles Erbe zu verstehen.
Insgesamt eine gute Lektüre, wenn wir begreifen wollen, wie Rassismus erfahren wird. Was er mit uns macht. Das zu durchdringen und zu transformieren, ist wohl eine der großen Aufgaben unserer Zeit.