Wenn die Erinnerung schwindet, aber die Liebe bleibt

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elke seifried Avatar

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Seit einer Woche muss sich Marigold endlich keine Sorgen mehr um ihre 86-jährige Mutter Nan machen, denn diese wohnt nun in Tochter Daisys ehemaligem Kinderzimmer. Ist das Haus mit ihr und der 25-jährigen Suze, die noch keinen so rechten Plan vom Leben hat und Hotel Mama mehr als bequem empfindet, nun für Marigold gemeinsam mit ihren Mann Dennis so richtig schön voll, wird es fast eng, als Daisy, ihre Tochter die seit Jahren in Italien lebt, feststellen muss, dass ihr Luca und sie völlig verschiedene Zukunftspläne haben, und dringend einen Unterschlupf sucht. Marigold könnte nicht glücklicher sein, denn sie liebt nichts mehr, als wenn sie sich um alle kümmern, alle verwöhnen kann. Doch dann ziehen dunkle Wolken auf, denn sie wird zunehmend vergesslicher und „Sie empfand Angst, tief im Innern, kalt und unmissverständlich: Etwas stimmte nicht. Gestern hatte sie ihre Handtasche in der Kirche gelassen, jetzt hatte sie Suzes Pakete vergessen. Sie war nicht fahrig, ganz im Gegenteil. Auf sie konnte man sich verlassen, alles gut zu organisieren. Ihr Leben lang hatte sie ein sehr gutes Gedächtnis gehabt. Den Laden und den Postschalter zu betreiben, mit allem, was dazugehörte, hatte schnelles Denken und ein hervorragendes Erinnerungsvermögen verlangt. Und bisher hatte Marigold sich auf beides verlassen können.“ Und auch wenn der Arzt zunächst meint, es bestehe kein Grund zur Sorge, »Ich würde vorschlagen, dass Sie damit anfangen. Ein flotter Spaziergang über Land wird Ihnen guttun. Trinken Sie viel Wasser. Und halten Sie Ihren Geist auf Trab.« und Marigold ihre Vergesslichkeit zunächst mit einem Notizbüchlein gut organisieren kann, „Die Rettungsleine, von der niemand wissen musste. Es fühlte sich gut an, alles im Griff zu haben, sicher zu sein, dass sie die zunehmende Vergesslichkeit mit dieser schlichten Methode vor ihrer Familie verbergen konnte. Jedes Mal wenn sie zur Toilette ging, sah sie in ihrem Büchlein nach, ob alles drinstand, was sie sich merken musste.“, wird es immer offensichtlicher, Marigold leidet unter Demenz.

Als Leser darf man sie bei ihrem fortschreitenden geistigen Abbau inmitten der Familie und der Dorfgemeinschaft, die sie alle sehr schätzen, begleiten. Zudem darf man sich mit ihren Töchtern weiterentwickeln. Gemeinsam mit Daisy gilt es einen neuen Lebensweg als Malerin einzuschlagen und sich in Liebesdingen zu schweren Entscheidungen durchzuringen und auch Suzes Leben bekommt eine gehörige Wendung.

„Der Gedanke, dass ihre Mutter starb, war unerträglich. Doch sie nach und nach zu verlieren schien irgendwie schlimmer.“ Richtig authentisch und gelungen, und ich kann aus eigener Erfahrung sprechen, weil ich mit meiner Mutter gemeinsam jahrelang meinen dementen Vater zuhause gepflegt habe, stellt die Autorin den langsamen schmerzlichen Verfall, die Belastungen für alle Betroffenen, aber auch die schönen Momente, die trotz allem bleiben, dar.

Was geht in langsam dement werdenden Menschen vor sich? Ich weiß es nicht, habe es mich oft selbst gefragt, könnte mir aber sehr gut vorstellen, dass die Autorin es mehr als gut trifft, wenn z.B. die ersten Worte entfallen, „Marigold fühlte das Wort wie eine Kartoffel in ihrem Mund, als besäße es eine Textur. Doch sie konnte es nicht aussprechen. »Gib mir eine Minute, dann fällt es mir ein.« Es war so nahe.“, oder plötzlich nicht nur die Erinnerungen, sondern auch die Orientierung fehlen. „Jetzt musste sie schnell zum Parkplatz. Doch sie erinnerte sich nicht, wo der war. Sie blieb stehen und schaute sich um, versuchte sich zu konzentrieren, aber es war, als wollte sie eine Gestalt in dichtem Nebel ausmachen. Nichts kam.“

Der lockere Sprachstil der Autorin liest sich äußerst flüssig. Die eigentlich traurige Geschichte wird durch viele lustige Szenen aber an keiner Stelle zu schwermütig. Dafür sorgen vor allem Nans witzige, oft auch bissigen Kommentare wie z.B., »Warte ab, bis du sechsundachtzig bist. Das ist alt. Ich stehe mit einem Fuß im Grab, mit dem anderen auf der Seife«, sagte Nan. »Eine falsche Bewegung, und das war’s.« oder auch der eine oder andere Dialog mit ihr. „Sie war sechsundachtzig, ihr lockiges Haar weiß, ihr Körper gebrechlich und ihr Gesicht so faltig wie Krepppapier. Doch ihr Verstand war messerscharf wie eh und je; die Jahre hatten ihr vieles genommen, aber den nicht.“ Julia Woolf beschreibt super anschaulich und so hatte ich die einzelnen Szenen wie im Film vor meinem inneren Auge. Emotional konnte mich die Autorin schon alleine mit dem zunehmenden Verfall Marigolds an sich völlig einnehmen, aber auch die gefühlvolle Ausdrucksweise hat ihr übriges dazu beigetragen, dass ich richtig mitgelebt und mitgelitten habe. Nicht selten hat es mit einen tiefen Stich versetzt, wenn Suze sich rücksichtslos und egoistisch verhält, Marigold weh getan wird oder ihre Lieben so mit dem Verlust kämpfen müssen. Die Liebesgeschichte um Daisy hätte ich nicht unbedingt gebraucht, hätte ich hier auch eine andere Lösung für alle erhofft, allerdings zeigt sie so vermutlich gelungen, wann Schuldgefühle ein ungesundes Maß annehmen.

Äußerst gelungen empfand ich die Figurendarstellung in diesem Roman. „Dennis und Marigold sahen einander bis heute auf diese sanfte, zärtliche Art an, wie es Menschen tun, deren Liebe im Laufe der Jahre nur stärker geworden war.“ Die beiden stecken so voller Liebe, ihr einfühlsames Miteinander, ihr bedingungsloses Füreinander-Da-Sein, ihre innige Beziehung, die man hier erleben darf, hat mir so richtig das Herz gewärmt. Die beiden muss man einfach nur mögen. Daisy war mir auch von Anfang an sympathisch, das Hilfsbereite und Selbstlose, hat sie sicher von ihren Eltern geerbt. Ganz besonders amüsiert habe ich mich über Nan, die in allem das Negative sucht und immer erst richtig froh ist, wenn sie es gefunden hat. Wobei sie mir stellenweise mit ihren bissigen Kommentaren auch tiefe Stiche versetzt hat. Suze, die scheinbar so überhaupt keine Verantwortung übernehmen will, hat nicht nur einmal meine Wut geschürt, konnte mich dann aber noch so richtig überraschen. Auch die anderen Mitspieler sind liebevoll entworfen, ganz besonders in Erinnerung wird mit sicher der Commodore mit seiner Maulwurfplage bleiben.

Alles in allem ein berührend, herzerwärmender und stellenweise auch humorvoller Roman, der feinfühlig von Familie, Demenz und Liebe erzählt und auf jeden Fall noch fünf Sterne verdient.