Berührend

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Germana Fabiano, Originalausgabe erschienen 2016, übersetzt von Barbara Neeb & Katharina Schmidt, mare Verlag

Die Insel Katria befindet sich im Süden Italiens. Die Bewohnerinnen und Bewohner dieser kleinen Insel sind stark vom Meer, dem Wind und dem Thunfisch geprägt. Unter der Führung des Raìs begeben sich die Fischer jedes Jahr auf die traditionelle Thunfischjagd. Der Titel des Raìs wird seit Generationen innerhalb derselben Familie von Mann zu Mann weitervererbt. Doch im Jahr 1960 wird dieses Muster durchbrochen, als anstelle eines Jungen ein Mädchen zur Welt kommt. Diese unerwartete Geburt schockiert die Inselbewohnerinnen und -bewohner zutiefst. Doch der aktuelle Raìs erweist sich als kreativer als die anderen.

“Es steht fest, dass der Raìs von unserem Blut sein muss, aber dass es keine Frau sein darf, hat niemand gesagt.” S. 12

So wird Nora in eine Welt hineingeboren, die sie ablehnt. Eine Welt, in der jede ihrer Handlungen beobachtet und beurteilt wird. Einerseits ist sie dazu verdammt, eine Rolle zu erfüllen, die ihr ein normales Leben verwehrt. Andererseits muss sie sich in allem, was sie tut, doppelt beweisen – aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit.
Ich las das Buch in Erwartung einer Geschichte, die verdeutlicht, dass Frauen genauso fähig sind wie Männer, auch wenn ihnen viele Hindernisse in den Weg gelegt werden. Eine Geschichte, in der ein Mädchen allen zeigt, wie es ist, mit enormer Last aufzuwachsen und dennoch zu triumphieren. Doch das Buch entpuppte sich als so viel mehr.
Es ist eigentlich die Geschichte einer Insel, die mit den Veränderungen und Krisen der modernen Welt konfrontiert wird und dennoch an ihren Traditionen festhalten möchte. Die Veränderungen beginnen mit der Entscheidung, Nora als Raìs auszubilden, und setzen sich im Verlauf der Geschichte fort. Touristinnen und Touristen beginnen die Insel zu besuchen, das Thunfischgeschäft steht zum Verkauf und plötzlich treffen Booteein – Boote voller Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind. Reporterinnen und Reporter überschwemmen die Insel auf der Jagd nach neuen Geschichten. Mitten in all diesen Entwicklungen stehen die Inselbewohnerinnen und -bewohner, die nur langsam lernen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen.
“Ein Foto von der Jacht und dem Flüchtlingsboot Seite an Seite, das ein Reporter aus Rom geschossen hatte, machte in ganz Europa die Runde und brachte den Namen dieser winzigen Insel in aller Munde, einer Insel, die bislang nur wenige kannten, ein Vollpfosten zwischen zwei Welten, der sich dieser Funktion plötzlich bewusst wurde und unvorbereitet zu seinem Rendezvous mit der Geschichte kam, die auch in diesem Fall tückisch und grausam war.” S. 155

Bis zur Mitte des Romans war ich nicht restlos von dem Buch überzeugt. Ich schätzte die Entwicklung und Darstellung von Nora. Es wurde nichts beschönigt oder romantisiert. Doch als die Richtung, in die sich der Roman entwickeln würde, klar wurde, war ich nicht nur überrascht, sondern regelrecht begeistert. Germana Fabiano vermochte es meisterhaft, die Komplexität menschlicher Erfahrungen in einer sich stetig verändernden Welt darzustellen. Die Geschichte hat mich tief berührt, und ich kann das Buch nur wärmstens empfehlen.

"Die Welt besteht aus Menschen, die kommen, und Menschen, die gehen, und es wird der Moment kommen, an dem wir uns alle vermischen. Anstatt nicht mehr zu wissen, wer wir sind, werden wir deshalb nur etwas anderes sein." S. 168