Nora

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Mattanza – Germana Fabiano
Diese beeindruckende Geschichte spielt auf Katria, einer winzigen, recht isolierten Insel nahe Sizilien. Das Leben hat sich hier seit Jahrhunderten praktisch nicht verändert. Die alte Kultur, Traditionen und vor allen Dingen auch Aberglauben spielen hier noch eine große Rolle. Nun hat sich ganz Katria einen männlichen Erben für den in die Jahre gekommenen Rais, den Anführer des traditionellen Thunfischfangs gewünscht. Ohne diesen ist die Insel und der Fischfang dem Untergang geweiht, so glauben sie. Dass Nora, die 1960 geboren wird, ein Mädchen ist, ist für die konservativen Inselbewohner ein großes Problem. Trotzdem nimmt der alte Rais seine Enkeltochter zu sich um ihr alles Wissenswertes beizubringen über den Thunfischfang, die Gezeiten, die Strömungen.
Nora hat sich ihre Rolle nicht ausgesucht. Dennoch tut sie ihr Bestes um in dieser rauhen Männerwelt zu bestehen. Trotz einer gewissen Distanz ist Nora eine tolle Protagonistin, die der Leser über viele Jahre bis ins mittlere Erwachsenenalter begleiten darf. Man erhält einen tiefen Einblick in dieses karge Inselleben, das so abhängig vom Thunfischfang ist – auch viele sehr interessante Fakten, mit denen ich bisher nie Berührungspunkte hatte. Doch auch das Menschliche kommt nicht zu kurz. Die Bewohner Katrias sind liebenswerte Eigenbrötler, viele etwas schrullig, alle sehr einfach – auf jeden Fall toll ihnen allen zu begegnen, wenn auch nur in einem Roman.
Es ist an sich eine recht ruhige Geschichte. Die Handlung schreitet langsam voran, ohne jemals langweilig zu werden. Abgesehen von Nora gibt es viele kleine Geschehnisse und Intrigen, die erzählt werden. Hier tun sich durchaus auch mehr als einmal menschliche Abgründe auf. Denn trotz aller Bemühungen zieht auch auf dieser abgelegenen Insel früher oder später der Fortschritt ein und gefährdet das gesamte Gesellschaftssystem auf Katria. Nicht nur der Fischfang verändert sich, nach und nach kommen immer mehr schiffbrüchige Flüchtlinge aus Afrika, die angeschwemmt werden. Eine Aufgabe, der die wenigen Bewohner kaum gewachsen sind.
Faszinierend sind die unzähligen grandiosen Natur- und Figurenbeschreibungen – wunderschöne, besondere Bilder, die im Kopfkino entstehen. Am beeindruckendsten fand ich allerdings die Sprachkunst dieser Autorin. Poetisch, fesselnd, leicht distanziert – in der Summe einfach perfekt.
„Sobald die letzte Kammer sich hinter den letzten Thunfischen geschlossen hat, ist der Wunsch nach festem Boden bereits wieder verblasst, und der Rais beschwört erneut den ewigen Atem des Meeres und seines Rauschs.“ Seite 97
Eine wunderbare Studie dieser Inselgesellschaft zwischen Tradition und Moderne, die dennoch aus Zeit und Raum gefallen zu sein scheint.
Nach längerer Durststrecke endlich mal wieder ein literarisches Highlight. Natürlich 5 Sterne.