Traditionen auf dem Prüfstand

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Auf Katria, einer kleinen Insel vor Sizilien, gehen die Uhren langsamer. Hier fahren keine Autos, jede*r weiß bestens über jede*n Bescheid und tradierte Werte werden hochgehalten. Das ruhige Leben der Insulaner*innen ist geprägt von der jährlichen Mattanza (it. Abschlachten/Thunfischjagd), die ihnen einen ein angenehmes Leben, fernab der trubeligen Städte, ermöglicht. Seit Ewigkeiten gehört die Mattanza zur Insel und ist fester Bestandteil der Tradition. Zur Tradition gehört auch, dass der Raìs die Mattanza anführt, doch als der männliche Erbe erstmals ausbleibt, wird Enkeltochter Nora aufgrund der mangelnden Alternativen als neue Raìs erwählt, zum Unverständnis mancher Insulaner*innen. Denn Tradition ist eben Tradition. Zu ihren Aufgaben wird es fortan gehören, die Mattanza von der Pike auf zu lernen und die männliche Mannschaft anzuführen.

Autorin Germana Fabiano rollt feinfühlig ein halbes Jahrhundert auf, in dem die alte Tradition der äußerst blutigen Mattanza auf den Prüfstand gerät und die Insel sich mit immer neuen Herausforderungen konfrontiert sieht. Mit Nora hat die Autorin eine Figur geschaffen, die anfangs mit ihrer Bestimmung hadert, diese aber akzeptiert und sukzessive in ihre Rolle reinwächst. Es sind jedoch die globalen Ereignisse und Probleme wie die Überfischung in den Meeren sowie die Eigeninteressen der Fischfabrikbesitzer*innen, gegen die auch die selbstbewusste Nora nichts ausrichten kann. Als schließlich Flüchtlinge in Katria Schutz suchen, prallen unterschiedliche Lebensrealitäten aufeinander und konfrontieren die isolierte Insel sowie ihre Bewohner*innen mit Geschehnissen, vor denen sie die Augen nicht verschließen können.

»Mattanza« kommt als ganz unaufgeregt leiser und emanzipatorischer Roman daher, der sich mit Traditionen in der schnelllebigen Zeit befasst und uns alte Lebensweisen näherbringt. Fabiano schafft dabei den Spagat, die Insulaner*innen authentisch darzustellen, die Mattanza aber nicht zu glorifizieren. Mit dem Meeresrauschen im Ohr und der Gischt vor Augen, las sich dieser Roman wunderbar an einem Nachmittag weg und evozierte starke Bilder in meinem Kopf, an die ich mich noch lange erinnern werde.